Tagelang sah es aus, als würden die USA und ihre Verbündeten kurz vor einer militärischen Intervention in Syrien stehen. Gestern hat US-Präsident Obama die Debatte darüber entschleunigt. Er habe noch keine Entscheidung getroffen, sagte er dem TV-Sender PBS.

Als Kriegsgrund für einen eventuell dennoch bevorstehenden Militäreinsatz fungiert ein angeblicher Giftgasangriff, für den die Regierung von Präsident Bashar al-Assad verantwortlich sein soll. Eindeutige Beweise fehlen bislang. Doch selbst wenn diese noch zutage gefördert werden, fehlt der Militäroperation die völkerrechtliche Legitimität, wie Rechtsphilosoph Reinhard Merkel im derStandard.at-Interview erklärt.

derStandard.at: Der geplante Militärschlag gegen Syrien steht ohne UN-Resolution auf sehr wackeligen völkerrechtlichen Beinen. Würden eindeutige Beweise für einen Giftgaseinsatz der syrischen Armee daran etwas ändern?

Merkel: Gehen wir einmal davon aus, dass das bewiesen werden kann. Dann stellt sich die Frage nach der Zurechenbarkeit dieses Verbrechens zum politischen Herrschaftssystem in Syrien. Will man gerade deswegen einen Krieg führen, muss man Beweise haben, die eine Verantwortlichkeit des ganzen Systems belegen. Dafür reicht es nicht, dass man ein Kriegsverbrechen feststellt. Das kann ja immer auch die Tat eines einzelnen Verbrechers gewesen sein.

Im Übrigen wissen wir seit Immanuel Kant, dass es keine Legitimationsgrundlage für Bestrafungskriege gibt. Frankreichs Präsident Francois Hollande sagt jetzt, man werde die Verantwortlichen "bestrafen". Aber seit wann darf man Krieg führen, um ein Verbrechen zu ahnden? Auch nach dem heutigen Völkerrecht ist so etwas fraglos unzulässig. Strafkriege laufen auf eine Kollektivbestrafung vieler Unschuldiger für die Taten Einzelner hinaus. So etwas verstößt gegen Grundprinzipien des Rechts.

Schließlich muss alles durch das Nadelöhr des UN-Sicherheitsrats. Er kann Gewalt nur dann autorisieren, wenn eine Bedrohung des internationalen Friedens vorliegt. Das ist hier schwer begründbar. Man mag ja sagen, dass ohne die Intervention ein erneuter Giftgaseinsatz drohen würde. Aber so etwas ließe sich nicht mit einem zweitägigen "chirurgischen" Schlag verhindern. Und untaugliche Gewaltmittel sind immer illegitim.

derStandard.at: Die USA und ihre Verbündeten basteln gerade an einer Legitimation mittels NATO, Arabischer Liga und dem Aufstellen einer breiten internationalen Koalition.

Merkel: Das sind keine normativen Fundamente und daher auch keine Legitimationsgrundlagen für einen Krieg.

derStandard.at: Es gibt ja auch noch die legitime Form der Intervention, wenn der Staat selbst darum bittet. Ein Gedankenspiel: Wenn jetzt genügend Staaten die Nationale Koalition der syrischen Oppositionellen anerkennen würden, könnte sie dann um Hilfe bitten?

Merkel: Frankreich hat das probiert, schon mit Libyen. Aber es gibt im Völkerrecht objektive Kriterien für die Frage, wer irgendwo die staatliche Autorität innehat. Dafür benötigt man eine effektive und halbwegs geordnete Kontrolle über erhebliche Teile des Staatsgebiets. Davon sind die Rebellen in Syrien weit entfernt.

derStandard.at: US-Präsident Barack Obama sprach davon, dass ein Chemiewaffeneinsatz das Überschreiten einer roten Linie bedeuten würde. Wie ist das völkerrechtlich festgelegt?

Merkel: Ein Chemiewaffeneinsatz steht zwar nicht im Katalog der Kriegsverbrechen des Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof. Aus der Chemiewaffenkonvention und dem Völkergewohnheitsrecht ergibt sich aber, dass er ein schweres völkerrechtliches Verbrechen ist.

derStandard.at: Wäre eine Intervention in Syrien momentan überhaupt völkerrechtlich gerechtfertigt?

Merkel: In Syrien wird allmählich die Schwelle des Unerträglichen erreicht, ab der eine klassische humanitäre Intervention legitimierbar wäre. Die müsste aber dann ganz anders aussehen als etwa die Luftschläge in Libyen oder der jetzt geplante kurzfristige "chirurgische" Schlag.

Auch ein Einsatz im Rahmen der sogenannten "Responsibility to Protect" müsste von einer Resolution des UN-Sicherheitsrats autorisiert sein. Legitimierbar wäre er allenfalls als echte Invasion in Syrien mit Bodentruppen, als unmittelbares Dazwischengehen, um die ineinander verbissenen Bluthunde zu trennen und das Land zu befrieden. Das würde auch ein Beseitigen der Chemiewaffenarsenale erfordern. Außerdem müsste man danach das Land jahrelang unter ein internationales Protektorat stellen. Das alles ist vollkommen utopisch. Kein Staat dächte auch nur entfernt daran, schon wegen der astronomischen finanziellen Kosten.

derStandard.at: Welche legitimen Schritte wären abseits einer militärischen Intervention noch möglich?

Merkel: Seit über zehn Jahren gibt es im Völkerrecht ein Instrument für genau solche Angelegenheiten wie einen Giftgasangriff, nämlich Artikel 13b des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Danach kann der UN-Sicherheitsrat eine Krisensituation zur Aufklärung an die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs verweisen. Das ist eine adäquate Vorgehensweise. Sie hat auch eine abschreckende Wirkung. Natürlich können die Verbrecher dann nicht auf der Stelle vor Gericht gestellt werden, aber das ist ja im Rechtswesen oft so, vor allem bei schweren Verbrechen. Das legitimiert keinen Krieg. Und deshalb ist der Westen drauf und dran, einen gravierenden Völkerrechtsbruch zu begehen.

derStandard.at: Richard Haas, Präsident des US-Forschungsinstituts Council on Foreign Relations, sagte, dass der UN-Sicherheitsrat nicht der einzige Aufseher sei, was völkerrechtliche Legitimität betrifft. Gibt es legitime Optionen, wenn der UN-Sicherheitsrat so wie jetzt blockiert wird?

Merkel: Es gibt mehrere Möglichkeiten unterhalb der Gewaltschwelle. Ansonsten wird unter Völkerrechtlern ein Vorschlag diskutiert, den die Mehrheit freilich ablehnt: wenn in der Situation eines gravierenden globalen Notstands der Sicherheitsrat aus offen politischen und moralisch illegitimen Gründen blockiert wird. Ein bitteres Beispiel war der Genozid in Ruanda. Für solche extremen Situationen würde ich ein Notstandsrecht vorschlagen, das militärische Interventionen am Sicherheitsrat vorbei legitimiert. Aber keinesfalls für die aktuelle Situation in Syrien.

derStandard.at: Angesichts des geplanten Einsatzes in Syrien wird gern auf den Kosovo-Einsatz 1999 verwiesen, der ohne UN-Resolution als humanitäre Intervention durchgeführt wurde. Auch hier sind sich die Völkerrechtler uneins, die meisten sehen ihn als rechtlich illegitim, aber moralisch legitim an.

Merkel: Wenn das damals wahr gewesen wäre, dass ein Völkermord gedroht hätte, dann hätte auch ich gesagt: Reden wir über die moralische Legitimität dieses Einsatzes und vernachlässigen wir die formelle Illegalität. Mittlerweile wissen wir aber, dass ein Völkermord nicht gedroht hat und dass beide Seiten schwere Verbrechen begangen haben. Daher sage ich heute: Das war in jeder Hinsicht illegitim.

derStandard.at: Wie würde das ideale UN-Szenario für eine Intervention in Syrien aussehen?

Merkel: Der UN-Sicherheitsrat beschließt eine Resolution mit deutlichen Vorgaben. Nicht so wie im Fall Libyen, als man alles so unbestimmt formuliert hat, dass sich die intervenierenden Staaten zu jeder Gewaltmaßnahme selbst ermächtigen konnten. Unter diesen Staaten befanden sich drei UN-Vetomächte; damit war der Sicherheitsrat nach seiner Resolution sofort aus dem Spiel. Er ist aber der völkerrechtlich allein legitimierte Treuhänder eines globalen Gewaltmonopols. Das ist die Grundordnung der UN-Charta und der Welt.

Im Idealfall enthält eine solche Resolution deutliche Vorgaben über die Dauer und die konkreten Ziele eines Einsatzes. Zusätzlich wäre ein ständiges Monitoring der Gewaltmaßnahmen anzuordnen, das dem Sicherheitsrat die Möglichkeit gäbe, je nach Verlauf wieder mit einer neuen Resolution einzugreifen. In Syrien müsste das Primärziel unbedingt lauten, die Gewalt zu beenden, und nicht, einer der Parteien zum Sieg zu verhelfen.

derStandard.at: Der UN-Sicherheitsrat steht in der Kritik, weil er sich kaum einigt. Wenn doch, entstehen meist nur abgeschwächte Resolutionen. Kann und soll er reformiert werden? Oder gar abgeschafft?

Merkel: Man müsste eigentlich die ständigen Mitgliedschaften mit Vetorecht neu ordnen und regional verteilen. Zum Beispiel sollten Afrika und Südamerika einen ständigen Sitz erhalten. Das ist freilich eine ferne Utopie, denn für Reformen braucht es die Zustimmung eben des Sicherheitsrates. Und keiner wird zustimmen, dessen eigener Platz dort bedroht wird.

Aber abschaffen? Ganz bestimmt nicht. Es ist die einzige Institution, die wir haben, um das "freie Recht" der Staaten auf Krieg einer gewissen Kontrolle zu unterwerfen. Wir können den UN-Sicherheitsrat trotz aller Defizite nicht verabschieden, und wir dürfen ihn nicht ignorieren. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 29.8.2013)