Was eine Zehnjährige alles tun und vor allem unterlassen muss, um den gesellschaftlichen Ansprüchen der saudi-arabischen Kultur zu entsprechen: Wadjda und das heiß begehrte Fahrrad. 

Foto: Filmladen

Wien - Die Seele und die Ehre, das ist es, was Frauen in Saudi-Arabien beschützen, indem sie ihre Körper vollständig verhüllen. Das Mädchen Wadjda ist da nicht immer allzu sorgfältig. Wadjda ist in einem Alter, in dem sie sich aber allmählich an die Regeln gewöhnen muss. Ihre erste Monatsblutung kann jederzeit kommen, jedenfalls ist schon dauernd die Rede davon. Frauen dürfen zum Beispiel den Koran nur mit einem Taschentuch angreifen, wenn sie menstruieren. Regeln, Regeln, Regeln. Das ist das Leben in einem Land, in dem der Islam in seiner wahhabitischen Form noch um einiges strenger genommen wird als etwa in Indonesien oder Marokko. So gibt es in Saudi-Arabien auch kein Kino. Denn es schadet der Seele und der Ehre, sich "beglotzen" zu lassen.

Kompliziertes Gefüge

Der Film Das Mädchen Wadjda von Haifaa al Mansour betritt also in vielerlei Hinsicht Neuland: eine Geschichte, in und mit der viele Regeln gebrochen werden. Ein Film aus Saudi-Arabien, das bisher auf der Landkarte des Weltkinos als weißer Fleck verzeichnet war (anders als Ägypten oder Iran, auch sie muslimische Länder, aber mit reicher Kinotradition). Für das Publikum im Westen, das mit den vielen Regeln nicht im Detail vertraut sein dürfte, stellen die Erlebnisse der zehnjährigen Wadjda auch eine Gelegenheit dar, sich mit dem komplizierten gesellschaftlichen Gefüge vertraut zu machen, von dem Saudi-Arabien geprägt ist. Es sind die Frauen, die in diesem Gefüge nur geringe Freiheitsräume finden.

Haifaa al Mansour präsentiert eine ganze Reihe von komplexen Frauenfiguren, alle müssen ständig Lösungen finden für irgendwelche Probleme. Wadjda ist da noch diejenige, die sich am wenigsten unterkriegen lässt. Sie ist "vorwitzig", wie jemand einmal zu ihr sagt - in manchen Kulturen wäre das fast schon ein Kompliment, hier ist es ein (sanfter) Tadel. Wadjdas Mutter steht unter dem Druck, dass sie ihrem Mann bisher noch keinen Sohn geboren hat. Längst hat die Schwiegermutter eine neue Partnerin für ihren Sohn ins Auge gefasst.

Wadjdas Lehrerin Frau Hussa schließlich lässt erkennen, was aus einem Mädchen werden könnte, das zu vorwitzig ist: eine melancholische, alleinstehende Schönheit, zu der vielleicht nachts einmal ein "Dieb" kommt. Alle wissen dann Bescheid, was los war. "Ich war einmal wie du, Wadjda", sagt Frau Hussa. Es ist der traurigste Satz des ganzen Films, denn er lässt erahnen, welche Perspektiven eine Zehnjährige wie Wadjda hat. Sie hat sich fest vorgenommen, ein Fahrrad zu kaufen, das sie bei einem Händler gesehen hat. 800 Rial soll es kosten, sie könnte dann endlich mit dem Jungen um die Wette fahren, der ihr auf dem Schulweg häufig voranfährt. Doch Mädchen dürfen nicht Fahrrad fahren in Saudi-Arabien. Auch das hat mit Ehre und Seele zu tun, mit Vorstellungen von weiblicher Integrität.

Das Fahrrad ist im Weltkino durch Vittorio de Sicas neorealistischen Klassiker Fahrraddiebe ein für alle Mal als Symbol ausgewiesen. Es steht für individuelle Freiheit, auch für Subsistenz in schwierigen Situationen. Haifaa al Mansour verweist mit ihrer Geschichte also auf den Kontext ihres Films, der idealerweise ebenso mit einer Stunde null, mit einem Neubeginn zu assoziieren wäre wie der Neorealismus insgesamt. Subtil entwickelt die Regisseurin mit ihrer unwiderstehlichen Heldin eine kleine Geschichte, die zugleich ein großes Panorama ist. Doch wird dieser mit deutschem Geld koproduzierte Film seinen Weg in Saudi-Arabien erst finden müssen: Während er für uns bei aller sozialen Brisanz einfach Kino ist, ist er dort ein Tabubruch, aus dem die blaue Farbe, mit dem sich ein Mädchen die Zehennägel bemalt, herausleuchtet wie ein revolutionäres Signal. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 27.8.2013)