"Ich dachte immer, wenn es mir an etwas mangelte, es liege an meiner persönlichen Unfähigkeit": Undine Zimmer.

Foto: fischer verlag

In ihrem Buch "Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie" (S. Fischer) beschreibt Zimmer ihre Kindheit und Jugend in materieller Armut und wie sie es schaffte, ein Studium zu absolvieren, obwohl ihre Eltern auf Sozialhilfeniveau lebten.

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STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch eine Kindheit voller Verzicht. Waren Sie ein armes Kind?

Zimmer: Eigentlich habe ich nie gedacht: "Ich bin arm." Oder: "Meine Eltern sind arm." Ich würde das auch heute so nicht sagen. Wir hatten aber auf jeden Fall wenig Geld, da wir ja von staatlicher Unterstützung lebten. Meine Mutter hat es immer wieder geschafft, sich fortzubilden, um einen Job zu bekommen, aber es klappte nicht so gut. Dann haben sich meine Eltern ja auch getrennt. Aber ich musste nie hungern, wenngleich die Küche oft eintönig war.

STANDARD: Was ist der Unterschied zwischen Armut und wenig Geld zu haben?

Zimmer: Armut ist für mich, in einer Situation gefangen zu sein, aus der man eigentlich raus möchte, wozu aber nicht die Kraft hat. Meistens bedingen sich verschiedene Komponenten gegenseitig, eine hat sicherlich mit fehlendem Geld zu tun.

STANDARD: Wann haben Sie gemerkt, dass in ihrer Familie permanent Verzicht nötig ist?

Zimmer: Als kleines Kind natürlich noch nicht so. Da spielen sich ja auch Freundschaften eher im Kinderzimmer ab. Erst als ich älter wurde. Aber auch da habe ich vieles noch gar nicht mit materiellem Mangel in Zusammenhang gesehen. Der Klassiker ist natürlich für jemanden, der kein Geld hat, der Fasching. Alle Kinder haben tolle Kostüme, auch ich wollte immer eine Prinzessin mit glänzendem Kleid und richtiger Krone sein.

STANDARD: Sie schildern in Ihrem Buch, dass Sie dann ein Frosch aus bemalten T-Shirts und ein bisschen Pappe wurden.

Zimmer: Das war unbefriedigend. Aber ich dachte: Okay, meine Mutter kann das nicht anders. Oder im Geografieunterricht, da ging es einmal um die unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Manche Kinder kannten die gut. Ich fühlte mich eher mit meinem Wissensstand zurück. Aber als Kind oder Jugendlicher kann man noch nicht so deutlich für sich formulieren: Wir waren dort noch nicht, weil wir einen anderen sozialen Status haben, weil wir es uns nicht leisten können. Ich dachte immer, wenn es mir an etwas mangelte, es liege an meiner persönlichen Unfähigkeit.

STANDARD: Aber irgendwann wird es einem dann klarer.

Zimmer: Ich erinnere mich an ein Osterfest. Die Eltern meiner Freundinnen wussten, dass sich meine Mutter kein Ostergeschenk leisten konnte. Also haben sie mir auch ein Nest versteckt. Da sollte ich mich eigentlich freuen, aber ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil ich dachte, ich nehme ja wem anderen etwas weg. Schlimm ist auch das Gefühl, nichts zurückgeben zu können, zu wissen: Die eigene Mutter kann eben nicht für alle eine Runde bei McDonald's schmeißen. Mit diesem Gefühl der Unzulänglichkeit kämpfte ich auch noch in meiner Studienzeit, wo ich extrem knapp kalkulieren musste.

STANDARD: Waren Sie jemals wütend auf Ihre Eltern, dass diese nicht mehr geschafft haben?

Zimmer: Nein, auf meine Mutter auf keinen Fall. Bei meinem Vater könnte ich strenger sein, aber letztendlich ist es heute so, dass ich sehe: Beide haben sich bemüht, sie haben am Rande ihrer Kräfte getan, was sie konnten. Mein Vater hat es auch geschafft, nicht im Alkohol zu versinken. Das mag von außen wenig erscheinen, aber ich weiß, dass das eine Leistung ist. Vor allem meine Mutter hat mir ja auch extrem viel Immaterielles geboten. Bei uns gab es Literatur und Musik, Bildung war ganz wichtig.

STANDARD: Sie wurden früher als andere Kinder auf die Härten des Lebens vorbereitet. Profitieren Sie als erwachsene Frau davon?

Zimmer: Man lernt früh zu kalkulieren und seine Grenzen auszutesten. Es fördert die Zähigkeit, aber auch den Optimismus - im Sinne von: Ich komme da raus. Doch zweifelsohne ist kein Geld zu haben auch sehr anstrengend. In den meisten Familien gibt es Omas oder Tanten, die ein Zugticket bezahlen, wenn man nach Hause möchte, oder etwas zum Führerschein geben. Das fiel bei mir alles weg. Wenn der Staubsauger kaputt war, riss das gleich ein Riesenloch ins Budget.

STANDARD: Was bedeutet Ihnen Geld heute?

Zimmer: Ich habe seit ein paar Monaten zur Abwechslung mal ein regelmäßiges Einkommen. Das gibt mir Sicherheit. Grundsätzlich bedeuten mir materielle Dinge nicht so viel, wenngleich auch ich bei Schuhen und technischem Schnickschnack schwach werde. Im Moment genieße ich es einfach, im Supermarkt nicht rechnen zu müssen. Und dass ich meinen Eltern etwas geben kann. (Birgit Baumann, Family, DER STANDARD, 27.8.2013)