Es gibt wohl einen guten Grund, warum Christoph Leitl seit 13 Jahren die Wirtschaftskammer leitet, aber nie in die Regierung gewechselt ist. Seine markigen Sprüche eignen sich zwar für Stimmungsmache, aber einer nüchternen Überprüfung halten sie oft nicht stand.

Auch diesmal: Der Wirtschaftsstandort Österreich ist nicht, wie Leitl sagt, "abgesandelt". Das kann sein Parteichef Michael Spindelegger noch so laut schönreden. Österreich hat in den internationalen Rankings seit 2007 tatsächlich einige Plätze verloren. Aber erstens sind diese Ranglisten keine exakte Wissenschaft, und zweitens hat dieser Rückgang zumeist mit Faktoren zu tun, die außerhalb der politischen Kontrolle liegen: die Eurokrise und das matte Wachstum in Mittel- und Osteuropa, von wo vor einigen Jahren viel stärkere Impulse für die heimische Wirtschaft kamen als heute.

Österreichs Standortqualitäten haben sich im vergangenen Jahrzehnt nicht entscheidend geändert: Das Land bietet Investoren immer noch eine ausgezeichnete Infrastruktur, hervorragende Qualifikationen und eine hohe Rechtssicherheit. Doch hier zu produzieren ist teuer - als Folge relativ hoher Gehälter, happiger Steuern und einer ganzen Fülle strikter Regulierungen zum Schutz von Arbeitnehmern und der Umwelt.

Aber man muss kein großer Experte sein, um zu begreifen, dass diese Stärken rasch verlorengehen, wenn sie nicht gepflegt werden. Und diese politische Pflege, da haben Leitl und andere Wirtschaftsvertreter recht, die ist bestenfalls halbherzig, in manchen Bereichen fahrlässig schlecht. Vor allem in der Bildung - an den Schulen und den Universitäten - wird das menschliche Kapital, der größte Vermögenswert des Landes, in Bezug auf die kommende Generation vernachlässigt. Das bekommen auch die Unternehmen zu spüren, die trotz steigender Arbeitslosigkeit über Fachkräftemangel klagen.

Man muss es zwar der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung zugutehalten, dass sie seit Jahren Änderungen in der Bildungspolitik fordern - wenn auch ohne Erfolg. Doch in den jetzigen Ansagen geht dieser Aspekt der Standortdiskussion völlig verloren; denn der würde - gerade beim Thema Schulen - auch eine Prise Selbstkritik erfordern.

Stattdessen verrennen sich Leitl, Spindelegger & Co in die absurde These, wonach die SP-Rufe nach Vermögenssteuern die Unternehmen verscheuchen. Zwar klagen Wirtschaftsleute gerne über die - tatsächlich hohen - Sozialabgaben und Steuertarife. Aber die Angst vor der "Faymann-Steuer" ist eine Wahlkampfmär.

Nüchtern betrachtet ist auch die bestehende Steuerlast nicht Österreichs Hauptproblem. In Schweden, das Leitl als Vorbild rühmt, ist sie höher. Das Problem ist, dass die eingehobenen Gelder nicht gut genug verwendet werden; zu viel davon versickert in Frühpensionen und in der föderalistischen Verwaltung. Da bleibt zu wenig für die kritischen Standortfaktoren Hochschulen und Forschung übrig.

Deshalb ist die jetzt von der ÖVP eröffnete Standortdiskussion eine vergebene Chance; im Wahlkampf fliegen nur gegenseitige Beschimpfungen statt Argumente. Der richtige Zeitpunkt wäre nach der Wahl, bei der Ausverhandlung eines neuen Regierungsprogrammes. Doch wenn in den kommenden fünf Jahren erneut so wenige Vorhaben umgesetzt werden wie in den vergangenen, dann könnten Leitls Warnungen doch noch wahr werden. (Eric Frey, DER STANDARD, 24.8.2013)