Markus Oirer hat einen langen Weg der Heilung hinter sich. Nachdem er 20 Jahre lang seine Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch im Alter von acht bis 14 Jahren verdrängt hatte, arbeitete er seine Verletzungen in einem Buch und in der Therapie sukzessive auf. In Vorträgen vor Psychotherapeuten in Ausbildung und Betroffenen gibt er nun seine Erfahrungen weiter. Doch dieses Engagement reicht dem 41-Jährigen nicht.
Er möchte Kindern und Jugendlichen, die sexuellem oder körperlichem Missbrauch ausgesetzt waren, finanziell helfen und einen Teil seiner Vortragseinnahmen an Kleinprojekte spenden. Kleinprojekte sollen es sein, damit er die Menschen auch kennenlernen kann, denen mit seiner Spende geholfen wird. "Zum Glück muss ich von meinen Vorträgen nicht leben, da ich voll im Berufsleben stehe", sagt Oirer. Deshalb würde er auch etwas zurückgeben können und wollen.
Schicksal wandeln
Für die klinische und Gesundheitspsychologin Christa Schirl ist das ein verständlicher Wunsch. Viele Menschen würden ihr eigenes Schicksal wandeln wollen, damit schlussendlich etwas Gutes daraus entsteht. Damit würden die eigenen Verletzungen oder Schicksalsschläge oftmals einen Sinn bekommen. Oirer ist mit diesem Bedürfnis nicht alleine. Betroffene wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben. Sie wollen verhindern, dass andere Personen dieselben Fehler begehen wie sie oder helfen, dass der Weg zur Heilung für andere Menschen einfacher wird.
Bereits seit 15 Jahren weiß Alexandra Salvenmoser, dass sie anderen Menschen mit ihrem Schicksal helfen möchte. Die 43-jährige Tirolerin wurde als Kind zur Adoption freigegeben. Von ihren Adoptiveltern erfuhr sie nicht die liebevolle Erziehung, die sie sich gewünscht hätte. Mit zwölf Jahren wurde sie das erste Mal von ihrem Onkel missbraucht.
Sie passte regelmäßig auf die Söhne ihrer Lieblingstante auf, wenn diese mit ihrem Mann am Abend unterwegs war. Er fand aber immer öfter Ausreden, damit er früher nach Hause gehen konnte, und missbrauchte das junge Mädchen vier Jahre lang. In einem Gespräch mit dem Lebensgefährten einer anderen Tante brach sie unbeabsichtigt ihr Schweigen.
Gespräche und Buch statt Therapie
Die Familie zerstören, den Cousins den Vater nehmen, der Lieblingstante Kummer bereiten – das wollte die damals 15-Jährige aber nicht. Sie zeigte den Täter niemals an, die Familie glaubte ihr zunächst den Missbrauch nicht, es folgten ein Selbstmordversuch und der Weg zurück ins Leben mithilfe der Bibel.
Eine Therapie nahm Salvenmoser nie in Anspruch, in einem Buch schrieb sie schließlich ihre Erfahrungen nieder. Sie möchte anderen Menschen ihr Schicksal zur Verfügung stellen, um sich nicht alleine zu fühlen. Mit anderen Betroffenen tauschte sie sich online und in persönlichen Gesprächen aus. Heute leitet Salvenmoser in Wörgl eine Selbsthilfegruppe für Betroffene von sexuellem Missbrauch namens "Lebenslang, doch endlich frei". Vier bis fünf Stunden investiert sie wöchentlich in ihr freiwilliges Engagement.
Mittlerweile sei die ständige Konfrontation mit anderen Missbrauchsfällen für sie nicht mehr belastend, sagt Salvenmoser. Im Vordergrund stehe die gegenseitige Hilfe: "Das ist ein Geben und Nehmen. Für mich war niemand da, und ich will für andere da sein."
Im Trauma nicht alleine sein
Psychologin Schirl weiß, dass es "das Schlimmste ist, wenn Betroffene in ihrem Trauma alleine sind". Für viele ihrer Patienten sei es deshalb wichtig, dass die Therapeutin zur Zeugin des Traumas wird. Sie sieht allerdings Therapie nicht als "Wundermittel".
Freiwilliges Engagement und Gespräche mit anderen Betroffenen könnten hier sehr hilfreich sein, sagt Schirl. Dabei sollten die Betroffenen sich aber immer wieder selbst hinterfragen, ob das eigene Schicksal nicht ein Hindernis ist. Man sollte vermeiden, seine eigenen Erfahrungen pauschal auf andere übertragen zu wollen. Supervision sei in diesem Fall wichtig.
Durch die Trauer ins Hospiz
Supervision hilft auch Brigitte Rudel immer wieder, wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie einen Fall übernehmen und professionell betreuen kann. Die 49-Jährige engagiert sich im Hospiz Wiener Neustadt der Caritas und führt dort Sterbe- und Trauerbegleitungen durch.
Dazu gebracht hat sie ihre eigene Trauer, die sie auch nach sechs Jahren immer wieder erlebt. Damals stürzte ihr Mann während einer Geschäftsreise mit dem Flugzeug ab. Rudel blieb mit ihren zwei Kindern und "einer Flut an Gefühlen wie Schuld, Trauer, Schmerz" zurück.
Lange habe sie nicht begriffen, dass ihr Mann tatsächlich nicht mehr nach Hause kommen wird. Sie suchte schließlich Rat bei einer Sozialarbeiterin. Diese half ihr mit praktischen Tipps im Alltag, ihre Arbeitsstelle unterstützte sie mit stundenweisem Krankenstand, und Freunde waren immer wieder mit der Frage "Wie geht es dir?" für sie da.
Offener Umgang mit dem Tod
"Schließlich habe ich realisiert, dass ich die Hilfe dieser Menschen nie gleich zurückgeben kann", erzählt Rudel. Deshalb beschloss sie, anderen Personen in ihrer Trauer beizustehen. Dabei gefiel ihr vor allem der Hospizgedanke, der einen offenen Umgang mit dem Sterben und dem Tod darstelle.
In vier Jahren begleitete Rudel sieben Personen – meist ältere Damen, die ihren Lebenspartner verloren hatten. "Dabei habe ich erkannt, dass es keinen Unterschied macht, wie alt die große Liebe ist, wenn sie stirbt. Der große Schmerz nach dem Tod ist der Preis, den alle für sie bezahlen müssen."
Eigene Trauer als Teil des Engagements
Einmal pro Woche besucht Rudel ihre Klienten, um mit ihnen zu reden oder einfach nur zuzuhören. Eine ältere Dame begrüßte sie einmal in ihrer Wohnung mit gedecktem Tisch. Es war ihr Hochzeitstag, den sie nicht alleine feiern wollte.
Ihre eigene Trauer ist für Rudel noch immer Teil ihres Engagements, ihres Lebens. Sie werde nie aufhören zu trauern und nehme sich immer wieder bewusst Zeit dafür. Das habe sie auch durch ihre freiwillige Tätigkeit im Hospiz gelernt.
Das Leben in zwei Taschen
Etwas zurückgeben möchte auch Markus S., denn auch nach seinem Schicksalsschlag waren viele Menschen für ihn da, die ihn wieder aufrichteten. Der Wiener hilft fast täglich in der Obdachloseneinrichtung Gruft mit und kümmert sich dort um "alles, was halt so zu machen ist".
Nachdem sein Unternehmen schließen musste, verlor S. seine Familie und seine Wohnung. Sein gesamtes Leben befand sich in einem Rucksack und einer Tasche. Er war obdachlos und übernachtete die ersten vier Monate im Winter auf der Donauinsel. "Aber irgendwann geht es nicht mehr", erinnert sich der 45-Jährige. "Es wird einem alles gleichgültig, weil man keine Kraft mehr hat." Dann rief er bei einer Servicenummer an, die ihn an die Gruft vermittelte. Die Einrichtung an der Mariahilfer Straße kannte er damals nicht.
Zum ersten Mal wieder Mensch
Es war Nacht, als er das erste Mal die Stufen in den Aufenthaltsraum hinunterstieg. "Es war ein Albtraum", erzählt S. Rund 150 Obdachlose übernachteten an dem Abend gleichzeitig in der Einrichtung und schnarchten. Das war dem Mann zu viel. Er flüchtete und kam erst nach einer Woche wieder zurück. Diesmal sprach er mit einem Sozialarbeiter und anderen Obdachlosen. Und fühlte sich zum ersten Mal seit langem wieder als Mensch behandelt.
"Jeder hilft dir irgendwie weiter", sagt S. Er bekam Tipps zum Tagesablauf in der Gruft, Unterstützung von Sozialarbeitern auf seinem Weg zu einer eigenen Wohnung, und manchmal war es auch nur eine Zigarette oder die Worte eines anderen Obdachlosen, die ihm in dem Moment am meisten halfen.
Seit 2005 hat der 45-Jährige eine eigene Gemeindewohnung, eine Arbeitsstelle hat er allerdings nicht. Das freiwillige Engagement in der Gruft gibt ihm die nötige Tagesstruktur, um nicht nur zu Hause zu sitzen und mit seinem Schicksal zu hadern. "Ich werde wahrscheinlich nie wieder so viel Geld haben, dass ich spenden kann", sagt er. "Deshalb gebe ich meine Zeit. Ohne Gruft würde es mich nicht mehr geben. Darum gehört sich das so, dass ich etwas zurückgebe." (Bianca Blei, derStandard.at, 30.8.2013)