Für viele ist die Identität in sozialen Medien ein essentieller Bestandteil des Lebens

Foto: Heribert Corn

Als Marc Prensky im Oktober 2001 erstmals von "digital natives" schrieb, muss dem amerikanischen Pädagogen wohl so jemand wie Luca Hammer vorgeschwebt sein: Bevor der 24-Jährige in der Früh seinen ersten Schritt aus dem Bett macht, hat er bereits auf Twitter die Neuigkeiten der letzten Nacht durchgescannt. Wenig später setzt er sich an seinen Computer, wo er Blogs durchstöbert, womöglich selbst einen Eintrag verfasst und sich anschließend durch den morgendlichen Mailverkehr durcharbeitet. Bevor der Tiroler dann am Mittagstisch zur Gabel greift, fotografiert er via Smartphone das Essen und postet es auf Facebook. Wenn er am Nachmittag unterwegs ist, checkt er bei jedem Halt mit einer Handy-App virtuell ein. Kurzum: Luca Hammer ist seit seiner Pubertät so selbstverständlich mit dem Internet aufgewachsen wie vorige Generationen mit Bravo und Gameboy. Überflüssig zu erwähnen, dass er auch in Datenschutzfragen überaus firm ist.

Für jedermann zugängliche Daten

Doch Luca Hammer ist auch der personifizierte Albtraum eines jeden Datenschützers, denn Privatsphäre scheint dem ehemaligen Publizistikstudenten nahezu gleichgültig zu sein - diesen Schluss legt zumindest die folgende Recherche nahe: Wer sich eine halbe Stunde lang durch Hammers digitale Spuren auf Twitter-, Facebook- und Blog-Accounts klickt - allesamt für jedermann zugängliche Daten -, bekommt das Gefühl, einen alten Bekannten vor sich zu haben. Dass er etwa jüngst wegen Hautproblemen im Krankenhaus gewesen sei, steht dort zu lesen. Ebenso erfährt man, wann er morgens stets das Haus verlässt und um wie viel Uhr er schlafen geht. Wie er seine jetzige Frau durchs Bloggen kennenlernte und sie nach einer vierjährigen Fernbeziehung gemeinsam in eine Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen zogen. Ihre gemeinsame Tochter kann man bereits wenige Momente nach der Geburt auf Fotos betrachten. Wieso gibt jemand, der es doch eigentlich "besser" wissen müsste, so viel von sich preis?

Intimste Daten

Es erscheint paradox: Während Überwachungsskandale einen großen Aufschrei auslösen und den Großteil der Bevölkerung zusammenschaudernd an George Orwell denken lassen, werfen gleichzeitig immer mehr User ihre intimsten Daten ins Netz - freiwillig und mit größtem Vergnügen. Geert Lovink, Medienwissenschafter an der Universität Amsterdam und Internetaktivist der ersten Stunde, sieht in dieser Entwicklung keinen Widerspruch. Die Leute würden ihr Verhalten ganz anders einstufen: "Sie glauben, sie kommunizieren mit einer überschaubaren Gruppe an Benutzern, und denken, dass dort niemand reinschaut, weil das eh triviale Informationen sind. Das steht natürlich im Widerspruch zu den kommerziellen Zielen von Facebook und Twitter." Diese wären erreicht, wenn die Unternehmen die Daten ihrer Nutzer in Echtzeit sammeln, ohne dass sie überhaupt etwas davon mitbekommen.

"Online kann ich alles rausschreien"

Dass aber mündige User diesen Deal bewusst eingehen - also ihre Daten freiwillig hergeben, um im Gegenzug die Dienste von Facebook und Co gratis in Anspruch zu nehmen -, lässt der Niederländer nicht gelten: "Niemand liest die Nutzungsbedingungen. Man glaubt, es sind immer die anderen, die überwacht werden und nicht man selbst." Luca Hammer widerspricht: "Bei allem, was ich ins Internet stelle, gehe ich davon aus, dass es irgendwann einmal öffentlich werden könnte." Die wirtschaftlichen Interessen von sozialen Netzwerken seien ihm dabei gleichgültig. "Den Unternehmen ist es vollkommen egal, wer ich bin. Die wollen nur wissen, wie sie mir am besten Dinge verkaufen. Im Idealfall wären das Sachen, die mich tatsächlich interessieren."

Zuhören aus Höflichkeit

Seine Identität in sozialen Medien zu verewigen sei für ihn "ein bewussteres Leben". Schließlich habe er dadurch viele Dinge gelernt, etwa wie er auf Leute wirke. Eigentlich sei er im persönlichen Umgang eher introvertiert, doch online gehe er viel offener mit seiner Person um. Im Gespräch könne er sich nämlich nie sicher sein, ob sich sein Gegenüber tatsächlich für seine Ansichten interessiert oder nur aus Höflichkeit zuhört. "Online kann ich alles, was ich interessant finde, einfach rausschreien - aber ich schreie niemanden damit an."

Kompensationsstrategien

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtete Max Weber, dass, sobald die Menschen verunsichert sind, sie sich stärker mit sich selbst auseinandersetzen würden. Selbstinszenierungen im Netz sind letztlich auch eine Kompensationsstrategie: Von Arbeitsmodellen über Partnerschaftsbeziehungen bis hin zu gesellschaftlichen Rollen sind alle klassischen Bereiche der Lebensführung im Wandel begriffen. In sozialen Medien lassen sich durch die Feedback-Funktion einerseits eigene Identitätsentwürfe austesten, zudem kann man seinen "Freunden" beim Aufbau ihrer Identitäten zuschauen. Wer Social Media dabei als reinen Nährboden für Narzissmus betrachtet, sollte die Kausalität nicht durcheinanderbringen: "Facebook hat den Narzissmus nicht auf die Welt gebracht, sondern gibt den Leuten nur die Möglichkeit, ihn auszuleben", meint der 31-jährige Technikjournalist Jakob Steinschaden, der 2010 das Buch Phänomen Facebook veröffentlichte.

Konträr zur wirtschaftlichen Logik

Für Medientheoretiker Lovink ist die vorherrschende Art der digitalen Identität vor allem eins: langweilig. "Wir sollten die Leute ermutigen, mehr zu experimentieren. Facebook wird derzeit monodimensional eingesetzt", sagt der 54-Jährige, der kritisiert, soziale Netzwerke seien ein Abziehbild der analogen Realität, teilweise wie ein digitaler Lebenslauf: Facebook als permanentes Bewerbungsgespräch. Lovink erhofft sich, dass die Leute mehr mit anonymen Identitäten herumexperimentieren: "Es gibt viele mögliche andere Welten, Lebensstile und Freundeskreise, die zu entdecken sind." Dies stünde jedoch konträr zur wirtschaftlichen Logik der Unternehmen, denn der Werbewert von Nutzerdaten misst sich vor allem an ihrer Echtheit.

Anonyme Accounts

Luca Hammer hat wie die meisten Social-Media-User kein Problem damit, unter Klarnamen aufzutreten - sein alter Chef jedoch sah das einst anders: Als er in Wien bei einer Agentur arbeitete, wurde er dazu angehalten, sich für gewisse Inhalte einen zweiten, anonymen Twitter-Account anzulegen. "Die haben sich Sorgen gemacht, dass ich über bestimmte Dinge schreibe", sagt Hammer. "Ich hab halt schon immer sehr offen kommuniziert." (Fabian Kretschmer, INNO, DER STANDARD, 21.8.2013)