Der Wahlkampf ist eröffnet. Wird es wieder ein Ausländerwahlkampf, fragen die Meinungsforscher und Kommentatoren. Was sie damit meinen, sind nicht etwa wahlkämpfende Migranten oder ein Wahlkampf um deren Stimmen, sondern einer um die Stimmen jener, die den Islam für eine Bedrohung halten, die ihre Arbeitsplätze von Zuwanderung gefährdet sehen oder sich in ihrer alten Nachbarschaft nicht mehr zu Hause fühlen.

Die Zahl dieser Menschen ist groß, und ob sie wählen gehen und wem sie ihre Stimme geben, kann den Ausgang der Wahl entscheiden. Aber in Österreich ist auch die Zahl der "Menschen mit Migrationshintergrund" sehr groß. 15 Prozent der Bevölkerung sind im Ausland geboren und weitere vier haben Eltern, die im Ausland geboren wurden. In den USA gibt es dagegen nur zwölfeinhalb Prozent Einwanderer der ersten Generation. Dort werden Wahlkämpfe um die Stimmen der Einwanderer geschlagen, in Österreich um die Stimmen der Einwanderungsgegner. Das ist auch deshalb so, weil mehr als eine Million Menschen gar keine Stimme haben: Sie sind Ausländer. Fast zwölf Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung bleiben vom Wahlrecht ausgeschlossen.

Zwang muss legitimiert werden

Der Grundgedanke der repräsentativen Demokratie ist: Jede staatliche Herrschaft beruht auf Zwang. Dieser ist nur dann legitim, wenn die Menschen, die ihm unterworfen sind, dieselben sind, die in der Gesetzgebung repräsentiert werden. Wenn zwölf Prozent der Gesetzesunterworfenen in der Gesetzgebung nicht repräsentiert sind, dann gibt es ein gravierendes Demokratiedefizit.

Die Sache ist natürlich etwas komplizierter. Denn erstens sind nicht alle Zuwanderer daran interessiert, österreichische Staatsbürger zu werden. Das gilt etwa für die größte Zuwanderergruppe, die Deutschen. Für sie gibt es als EU-Bürger kaum Anreize, sich einzubürgern. Zweitens gewährt die österreichische Republik vielen Migranten das Wahlrecht, und zwar österreichischen Auswanderern und deren Nachkommen. Geschätzte 500.000 Österreicher leben permanent im Ausland. Die Hälfte davon ist wahlberechtigt und kann die Stimme ganz unbürokratisch über Briefwahl abgeben. Dass zumindest die erste Generation der Emigranten die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht behält, ist auch demokratisch sinnvoll. Niederlassung bedeutet ja nicht Verzicht auf Bindung an das Herkunftsland und Rückkehroptionen. Das gilt für Türken in Österreich genauso.

Das österreichische Demokratiedefizit lässt sich daher nicht nur an Zahlen festmachen, sondern vor allem an den Kriterien, durch die das Wahlvolk bestimmt wird. Eine Eudo-Citizenship-Studie für das Europaparlament belegt nun, dass der Zugang zum Wahlrecht für Auswanderer besonders großzügig und für Einwanderer besonders engstirnig geregelt ist. Im europäischen Vergleich gehört Österreich zu jener Minderheit von zwölf EU-Staaten, in denen das Wahlrecht strikt an die Staatsbürgerschaft gekoppelt und vom Aufenthalt unabhängig ist. In den sechzehn anderen gibt es Wahlrechte von Drittstaatsangehörigen auf kommunaler und teilweise auch regionaler Ebene.

Optionen für Integration

In Großbritannien können irische und Commonwealthbürger sogar Abgeordnete in Westminster werden. Ausländerwahlrechte und Förderung der Einbürgerung sind nicht alternative, sondern einander ergänzende Optionen für die politische Integration von Einwanderern. Die Beneluxstaaten, Finnland, Irland, Griechenland und Schweden kombinieren relativ inklusive Staatsbürgerschaftsgesetze mit dem allgemeinen kommunalen Wahlrecht für Drittstaatsangehörige.

Von diesen zwei Möglichkeiten, das Demokratiedefizit zu verringern, hat der Verfassungsgerichtshof einen versperrt, als er das in Wien beschlossene Wahlrecht von Drittlandsausländern auf Bezirksebene 2004 kippte. Die Richter vertraten eine ähnliche Position wie ihre deutschen Kollegen in Karlsruhe 1990: Das Wahlvolk muss bei allen Wahlen identisch sein, es kann nicht bei kommunalen Wahlen anders zusammengesetzt sein als bei nationalen. Die Karlsruher Richter anerkannten immerhin das demokratische Defizit des Einwanderungslandes Deutschland und zeigten dem Gesetzgeber den Ausweg, den dieser auch beschritt: erleichterter Zugang zur Staatsbürgerschaft statt Ausländerwahlrecht.

Verpasste Chance

Österreich ist auf diesem Pfad in die Gegenrichtung gewandert. Seit 1998 hat jede Novelle des Staatsbürgerschaftsgesetzes die Einbürgerungshürden erhöht. Die Einbürgerungszahlen sind von 45.112 im Jahr 2004 auf 7101 im letzten Jahr gesunken. Eine vom Verfassungsgerichtshof erzwungene Minireform vom Juni 2013 wurde zur verpassten Chance. Was bleibt, sind die höchsten Hürden: ununterbrochener zehnjähriger Aufenthalt, stabiles Einkommen in der Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes für Pensionen und Rücklegung der bisherigen Staatsbürgerschaft. Und was fehlt, ist ein Recht auf Staatsbürgerschaft für im Inland Geborene, wie es in den Einwanderungsländern Westeuropas die Norm ist.

Im Wahlkampf werden alle Parteien Position zur "Ausländerfrage" beziehen. Das wäre doch eine Chance, diese Frage einmal anders zu formulieren: Warum sind in Österreich geborene Kinder eigentlich Ausländer? Warum ist es für Zuwanderer in Österreich so viel schwieriger, Inländer zu werden, als anderswo in Europa? Wenn EU-Bürger bei Gemeinderatswahlen wählen dürfen, warum dann nicht auch Drittlandsausländer? Wenn laut Artikel 1 der Bundesverfassung das Recht vom Volk ausgeht, hat dieses Volk dann auch das Recht, sich selbst zu bestimmen, indem es Einwanderer dauerhaft ausschließt? (Rainer Bauböck, DER STANDARD, 20.8.2013)