Ein unverbesserlicher Verführer blickt auf seine gealterten Hände: In Albert Serras preisgekröntem "Historia de la meva mort" trifft Casanova auf seinen Nachfolger Dracula.

Foto: Festival del film Locarno

Erhielt den Spezialpreis der Jury: der portugiesische Filmemacher Joaquim Pinto.

Foto: Massimo Pedrazzini/Festival del film Locarno

"Was Locarno jetzt braucht, ist Kontinuität und keine Revolution", wurde Festivaldirektor Carlo Chatrian dieser Tage im Branchenblatt Screen International zitiert. Manchmal liegt allerdings gerade im beharrlichen Festhalten an einem einmal getroffenen Kurs ein radikales Moment: Dem neuen Leiter des größten Schweizer Filmfestivals gelang zum Einstieg eine bemerkenswert vielseitige Ausgabe, die Locarno endgültig zum Pflichttermin für all jene macht, die an einem formal eigenwilligen Kino interessiert sind.

Schon mit der Besetzung des Jurypräsidenten durch den Philippinen Lav Diaz setzte man ein Zeichen. Diaz gilt durch seine epischen Filmdramen - die längsten davon füllen einen ganzen Tag - als einer der ungewöhnlichsten Autoren der Gegenwart. Neben seinem neuen Film, Norte, the End of History, war auch sein vom Österreichischen Filmmuseum restauriertes fünfstündiges Emigrantendrama Batang West Side auf dem Festival zu sehen.

Die am Samstagabend präsentierten Entscheidungen der von Diaz geführten Jury sind von der Liebe zu einem persönlichen, avancierten Autorenkino getragen. Der Katalane Albert Serra gewann mit seinem dritten, bisher ambitioniertesten Spielfilm, Historia de la meva mort (Story of My Death ), den Goldenen Leoparden. In betont langsamen, Stimmungen und Atmosphären der Landschaft miteinbeziehenden Einstellungen erzählt der Film davon, wie die Welt des Verführers und Kosmopoliten Casanova in Dekadenz versinkt, während mit Dracula bereits eine neue, diabolisch-romantische "Leitfigur" am Horizont erscheint.

Der Portugiese Joaquim Pinto wurde für seinen Essayfilm E agora? Lembra-me (What now? Remind Me) hochverdient mit dem Spezialpreis der Jury bedacht. Wie Serras einmal an Straub/Huillet, dann wieder an einen entschleunigten Fellini erinnernde Arbeit geht auch Pinto originell mit filmhistorischen Vorbildern um.

Der Film ist der Versuch, die eigene Vergangenheit auf andere auszuweiten, um daraus auch ein Verständnis, einen Platz für die Gegenwart zu gewinnen: queeres Filmemachen, Rückschläge und Zwänge der eigenen Krankengeschichte - Pinto ist mit HIV infiziert und leidet an Hepatitis C -, die Beständigkeit seiner Beziehung mit Nuno Leonel, die Liebe zu Hunden - alles hat bald mit allem zu tun. Pinto bleibt das Zentrum der vielen Verästelungen des Films, der bewundernswert offen aufs Dasein blickt.

Nicht viele andere Festivals sind derzeit bereit, ähnlich variantenreiche Wettbewerbe zusammenzustellen, selbst wenn sich mit der Bestseller-Adaption Feuchtgebiete und dem US-Indie-Erfolgsfilm Short Term 12, der ein Heim für Jugendliche aus zerrütteten Verhältnissen als Schauplatz hat, auch Konventionelleres fand. Die US-Schauspielerin Brie Larson wurde für ihre energetische Verkörperung einer Betreuerin in diesem Film als beste Darstellerin prämiert.

Erfreulich ist der Preis für den Koreaner Hong Sang-soo als bester Regisseur. Es ist eine Entscheidung für einen beiläufig wirkenden, in Wahrheit aber rigiden, ökonomischen Stil, der schon einen Kamerazoom als starke Hervorhebung erscheinen lässt. Our Sunhi ist eine weitere von Hong Sang-soos komisch-melancholischen Auseinandersetzungen mit fehlgeleitetem Begehren. Drei Männer schwärmen für dieselbe Frau, die jedoch gegen deren Verführungskünste recht immun erscheint. Mit einer an Marivaux erinnernden Freude an der Geometrie wiederholt der Film nahezu gleiche Szenen - Tischgespräche, bei denen unter dem Einfluss von viel Alkohol auch Gefühle zu schwanken beginnen.

Ein Schaf und viele Pilger

Zu den Entdeckungen des diesjährigen Festivals gehören Manakamana, der, ausschließlich in einer Seilbahn gefilmt, Pilger auf ihrem Weg zu einem Tempel beobachtet - und daraus Effekte zwischen Erhabenheit und Komik generiert. Stephanie Spray und Pacho Velez wurden dafür mit dem Leoparden der Nachwuchsschiene Cineasti del presente ausgezeichnet.

Ein weiteres prämiertes Debüt eines Regieduos ist Gilles Deroos und Marianne Pistones Mouton: In dokumentarisch anmutenden Szenen erzählen sie von einem Jugendlichen aus desolaten Verhältnissen, der als Küchenhilfe eine zweite Chance bekommt. Er findet bald Freunde unter seinen Arbeitskollegen, verliebt sich in eine junge Kellnerin.

Gerade als einen das Gefühl beschleicht, ähnliche Geschichten schon öfters gesehen zu haben, ereignet sich ein unerwarteter Bruch: Mouton, das Schaf, wie der Spitzname des Protagonisten lautet, wird zum Opfer einer unmotivierten Gewalttat, bei der er einen Arm einbüßt. Deroo und Pistone erzählen in ihrem räudigen kleinen Film eben keine Erbauungsgeschichte, sondern eine der Unwägbarkeiten des Lebens.

Österreichisches Kino wurde in Locarno in Nebenschienen gezeigt. Norbert Pfaffenbichler präsentierte mit A Masque of Madness eine weitere dichte Found-Footage-Montage eines Horrorstars, nach Lon Chaney jene von Boris Karloff. Die deutsch-österreichische Koproduktion Master of the Universe um einen ehemaligen Investmentbanker wurde auf der Semaine de la Critique mit dem Hauptpreis prämiert. (Dominik Kamalzadeh aus Locarno, DER STANDARD, 19.8.2013)