Die katastrophale Entwicklung in Ägypten hat eine der politischen Gretchenfragen der vergangenen Jahrzehnte wieder hochaktuell gemacht: Wie hältst du es mit freien Wahlen, vor allem in Ländern, die vom demokratischen Ideal noch weit entfernt sind?

Der nach dem Fall des Kommunismus weitverbreitete Glaube, dass ein freier Urnengang den wichtigsten Schritt zur Demokratie darstellt, ist längst verflogen. Zu oft hat man gesehen, dass Wahlen bloß dazu genutzt werden, eine autoritäre Herrschaft zu legitimieren. In Ländern mit tiefen ethnischen oder religiösen Trennlinien spiegeln sie die bestehenden demografischen Verhältnisse wider und erschweren dadurch die Schaffung eines harmonischen Staatswesens. Für den Aufbau einer Demokratie, betonen zahlreiche Politikexperten, ist ein funktionierender Rechtsstaat wichtiger als Wahlen.

Aber gerade der Fall Ägypten macht eines deutlich: Hat das Volk einmal seine Stimme abgegeben und ist das Ergebnis halbwegs fair und korrekt, dann wird es sehr, sehr schwierig, diese Wahl nicht anzuerkennen oder umzustoßen. Wahlsieger besitzen eine Legitimität, die sie auch durch Inkompetenz und Machtmissbrauch nicht mehr so leicht verspielen. Seit Ende des Kalten Krieges scheuen auch die USA davor zurück, Putschversuche selbst gegen ihre schlimmsten Feinde – wie gegen Hugo Chávez 2002 – abzusegnen. Und in Europa sind Wahlergebnisse, wenn sie den Stempel "frei und fair" tragen, ohnehin sakrosankt.

Problematisch wird diese Einstellung dort, wo zumeist in Umbruch- oder Krisenzeiten Politiker oder Parteien Wahlen gewinnen, die selbst nicht viel von Demokratie halten, und daher die Gefahr droht, dass sie die einmal gewonnene Macht nicht mehr aus der Hand geben. Das ist auch das Argument, mit dem die Militärs und ihre Anhänger in Ägypten den Sturz von Mohammed Morsi rechtfertigen. Gerne wird dabei auf das Beispiel Deutschland 1933 verwiesen. Doch dieser Vergleich hinkt: Nicht durch eine Wahl, sondern durch einen Deal mit rechtsnationalen Kräften kam Adolf Hitler damals an die Macht.

Zwar bergen manche freie Wahlen tatsächlich die Gefahr in sich, dass sie die letzten sein werden. Doch die Schlussfolgerung, ein Putsch gegen autoritäre Wahlsieger sei das geringere Übel, erweist sich zumeist als Fehlschluss. Gerade radikale Kräfte werden den illegitimen Machtverlust nicht hinnehmen, wenn sie einen Großteil der Bevölkerung hinter sich wissen – und sie sind dabei im Recht.

In Algerien kämpfte die islamistische FIS mehr als ein Jahrzehnt, nachdem sie 1991 um den Wahlsieg betrogen wurde, und auch in Ägypten gibt es weder Anzeichen noch Gründe dafür, dass die Muslimbrüder Kompromissangebote der Militärs annehmen werden. Liberale Gruppen geben in solchen Situationen viel eher auf.

Aber wie umgehen mit populären Antidemokraten in einer instabilen Demokratie? Oft ist es besser, mit Wahlen zu warten und zuerst die Schaffung rechtsstaatlicher Rahmenbedingungen zu forcieren. Das wäre auch in Ägypten nach dem Sturz Hosni Mubaraks 2011 sinnvoll gewesen. Und wenn Islamisten oder andere Extremisten wieder eine Wahl gewinnen, dann muss es das Ziel ihrer Gegner werden, ihre Macht einzudämmen, nicht zu rauben.

Dieser Prozess ist mühsam und kann auch scheitern. Aber die Alternative, so verlockend sie sein mag, führt mit Sicherheit in eine blutige Sackgasse. (DER STANDARD, 19.8.2013)