Spätestens seit den Aufdeckungen Edwards Snowdens über die Praktiken der NSA ist das weltumspannende Ausmaß der geheimdienstlichen Beobachtung deutlich geworden: Jede Spur, die der Einzelne im Internet hinterlässt und alles, was er äußert, ist zur Information für Geheimdienste geworden. Der internationale Terror macht es möglich: Vorratsdatenspeicherung ohne Grenzen.
Hätte man Derartiges noch vor kurzem vermutet, so wäre man als paranoider Verschwörungstheoretiker abgestempelt worden. Heute, wo auch die Geheimdienste überall Verschwörungen vermuten, ist dieser Vorwurf aktueller denn je. Er richtet sich bloß nicht gegen die Geheimdienste selbst: Wenn derzeit im Internet die – nicht unplausible – Vermutung geäußert wird, dass die NSA ein akutes Bedrohungsszenario entwirft, um nachträglich ihre illegale Aktivität zu rechtfertigen, dann sind es diese Kritiker im Internet, nicht aber die Geheimdienste, die von den Medien als Verschwörungstheoretiker dargestellt werden.
Was aber ist das Irrationale an einer Verschwörungstheorie, was lässt sie unglaubwürdig erscheinen? Schließlich hat es immer schon Verschwörungen gegeben und auch Staaten haben sich konspirativ betätigt. Man denke nur an die Verschwörung gegen den iranischen Premier Mohammad Mossadegh 1953 und anderes mehr. Mit Recht kann auch der islamistische Terror als konspirativer Aktionismus angesehen werden.
Das Irrationale an Verschwörungstheorien ist gewiss nicht einfach darin zu erkunden, ob dargestellte Handlungsabläufe zutreffen oder nicht – das kann auch bei anderen, sachlich orientierten, Theorien nicht immer klar sein. So etwas lässt sich oft erst aus einer historischen Distanz beurteilen. Auch liegt es nicht an der mangelnden Logik. Paranoide Theorien leiden nicht an einem Mangel, sondern an einem Übermaß an Rationalität, die von ihren Verfechtern mittels penibler Kalkulation in Szene gesetzt wird: Hier ist alles restlos erklärbar.
Paranoiker haben Feinde
Es liegt aber auch nicht bloß an den persönlichen Schuldzuweisungen, den Personalisierungen, die in diesen Theorien auf unangemessene Weise bemüht werden: Schließlich können auch Paranoiker Feinde haben.
Die Irrationalität von Verschwörungstheorien ist vielmehr in einem mangelnden Erkenntnisinteresse gegenüber den weitreichenden Ursachen der Probleme sowie den Motiven der Akteure zu sehen. Sie besteht in der inadäquaten Analyse der Problemlage, die das erforderliche Niveau von Verallgemeinerung weder erreicht noch zu erreichen sucht. Konkret bedeutet das dann: Die Fragen nach den (gegenständlichen) Ursachen werden durch die nach (persönlicher) Schuld ersetzt.
Seit der flächendeckenden Einführung von Statistik in unseren Alltag haben wir uns daran gewöhnt, unser kausales Denken durch die Beobachtung von Korrelationen zu ersetzen. Die Ursachen für die entdeckten Wahrscheinlichkeiten sind dabei, wenn überhaupt, nur von sekundärem Interesse. Die Invarianz von Beobachtungen erscheint uns gleichsam selbsterklärend, jedenfalls aber kaum mehr einer Erklärung bedürftig. Und wenn die errechnete Wahrscheinlichkeit hoch ist, so können wir uns über diese, auch ohne Einsatz der eigenen Vernunft – sozusagen blind –, orientieren ...
Dieser statistischen Logik haben sich offenbar auch die Geheimdienste mit ihrer Rasterfahndung (von Terroristen und anderen Risikopersonen) verschrieben. Sie könnten dabei – so die Überlegung – sogar in die Zukunft sehen und auch potenzielle Terroristen auf Basis ihres Verhaltens oder anderer Indikatoren erkennen. Um die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, sollten möglichst viele – und im Idealfall alle – Daten über alle und alles, sprich über die gesamte Welt, erhoben werden: Dann hätten wir die Zukunft mit einer annähernd hundertprozentigen Trefferquote im Griff und könnten jedes noch so fragwürdige vorbeugende Handeln (bis hin zur Tötung) mit einer "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" rechtfertigen. – Dass sich bereits viele diesem totalitären Ziel verbunden sehen, beweist eine nicht geringe Akzeptanz der internationalen Datensammlung und der Drohneneinsätze.
Unter diesen Umständen braucht es nicht zu verwundern, dass man sich heute gegenseitig vorwirft, einer Verschwörungstheorie anzuhängen. Der schematische Gebrauch von Statistik und die von Kausalitätsvorstellungen "entlastete" statistische Weltsicht machen es möglich. Sie erlauben es jedenfalls den einfachen Gemütern, von vorausgesetzten Annahmen und einer Reflexion der Kontexte abzusehen und dennoch zu wahrscheinlichen Ergebnissen zu gelangen – so lange jedenfalls der (unbewusst gewählte) konzeptionelle Rahmen nicht überfordert ist.
Suche nach Risikopersonen
Statistik, respektive ihr Missbrauch, ist, so könnte man sagen, das zeitgemäße Werkzeug um paranoides Denken auf eine rationale Weise rechtfertigen zu können: Unter Ausklammerung der gegenständlichen Ursachen konzentriert man sich auf die unterstellten Indikatoren zur Identifikation von Risikopersonen und exekutiert so sein Programm gegen das von vornherein Abzulehnende, gegen das Böse. In dieser computergestützten Projektion eines Weltbildes, in der es nur gute Konformisten und böse (konspirative) Nonkonformisten gibt, manifestiert sich ein neues, ein institutionalisiertes Verschwörungsdenken der höheren Art, das vorauseilend die Welt beurteilt und bewertet. Es ist das ein Denken, das in der Welt nur eine Form des Protestes und des politisch motivierten Zuwiderhandelns kennt: die Verschwörung. – Und die Verschwörer, das sind die Anderen.
Das zentrale Problem der auf diverse Computerprogramme gestützten Rasterfahndung ist also nicht einfach darin zu sehen, dass man sich über deren Treffsicherheit und Effektivität niemals sicher sein kann. Es liegt auch nicht darin, dass die Trefferquote so hoch wäre, dass sie aus uns "gläserne Menschen" machen könnte, die weniger über sich und ihr künftiges Handeln wüssten als die Geheimdienste. Das viel beunruhigendere Problem liegt an der prospektiven, an der konstruktiven Wirkung der ideellen Konzepte der Rasterung – an der Zurichtung der Welt. Es liegt an den Anforderungen und Unterstellungen, die das gewünschte systemkonforme Verhalten kennzeichnen – also das, wonach wir uns alle (bewusst oder unbewusst) zu richten haben (werden).
So gesehen sind die Geheimdienste nicht bloß als Verschwörungstheoretiker tätig. Indem sie eine "schöne neue Welt" errichten, gestalten sie vielmehr – als "Verschwörungspraktiker" – unsere Zukunft. (DER STANDARD, 19.8.2013)