STANDARD: Frau Travnicek, Neos will ein neues Österreich. Sie auch?
Travnicek: Als sprachsensibler Mensch bin ich mit dem Begriff "neu" sehr vorsichtig. Neu bedeutet ja für viele Leute die komplette Abschaffung und Aufgabe des Alten. Das kann in vielen Erneuerungsbewegungen sehr schnell ausarten, wenn man sich zum Beispiel die Kulturrevolution in China ansieht, die auch den Anspruch hatte, im Endeffekt alles Alte zu vernichten und nur das Neue stehen zu lassen. Für mich ist der Weg immer Transformation, und da sehe ich natürlich einiges, etwa im Bildungsbereich, das transformiert werden könnte.
Sieben Fragen aus Max Frischs Fragebogen an Matthias Strolz und Cornelia Travnicek.
STANDARD: Sie, Herr Strolz, möchten es ja ein bisschen radikaler angehen. Was vom Alten darf bleiben?
Strolz: Alles, was gut ist, soll bleiben, den Rest wollen wir ändern. Wir sind nicht revolutionär, maximal auf österreichisch revolutionär. Ein Thema, wo auch wir das Gefühl haben, da sollen wir viel neu machen, ist Bildung. Wenn man zum Beispiel Migrantenkinder seit 30 Jahren in Sonderschulen sammelt, und niemand von den Verantwortlichen stößt sich daran, dann sagen wir, das ist nicht okay. Das wollen wir neu.
STANDARD: Neos bildet mit dem Liberalen Forum eine Wahlallianz. Welche Parteilinie gilt, wenn etwa die Liberalen bei einem Thema liberaler sind als Neos?
Strolz: Es gibt kein Thema, wo wir unterschiedliche Stoßrichtungen haben. Zum Thema revolutionär: Das LIF ist ab und zu ein bissl steiler als wir. Wenn Neos sagt, wir wollen die Staatsschuldenquote mittelfristig auf 50 Prozent zurückführen, dann sagt das LIF, sie wollen auf null. Das ist dieselbe Richtung. Wenn es zu einer Abwägung käme, die eine Gewissensfrage ist, würden wir die Abstimmung auch freigeben.
Travnicek: Sie haben immer betont, dass Sie im Gegensatz zu anderen Parteineugründungen keine Absplitterung von einer alten Partei sind und daher etwas Neues - und dann nehmen Sie das LIF mit? Eine Absplitterung von einer alten Partei. Das ist eigentlich ein Bruch des Versprechens.
Strolz: Das ist Ausdruck dessen, dass Neos in Spannungsbögen lebt. Wir kombinieren Idealismus mit Pragmatismus und Ergebnisorientierung. Es hat in der Zweiten Republik eine Bewegung gegeben, die es geschafft hat zu integrieren, und das war die Grünbewegung. Wir haben sicherlich stärkere Ergebnisorientierung als die Grünen. Das heißt aber auch, dass wir beweisen müssen, dass wir integrations- und paktfähig sind.
Travnicek: Wenn wir schon bei Pakten sind: Sie kooperieren ja auch mit den Julis, den jungen Liberalen. Die sind mir im ÖH-Wahlkampf aufgefallen durch Wortmeldungen, die mich doch etwas verstört haben. Julis-Spitzenkandidatin Claudia Gamon etwa hat einmal gesagt, jeder sollte im Staat nur das bezahlen, was er auch verwendet. Das ist meiner Meinung nach die Kündigung des Solidaritätsprinzips in der Gesellschaft, das finde ich bedenklich.
Strolz: Da bin ich bei Ihnen. Die Julis sind sicherlich unser Stachel im Fleisch. Das ist, wenn man so will, der sehr kernliberale Rand von Neos, mit dem wir durchaus auch immer wieder Reibungen haben, die aber auch wichtig sind für uns, wir wollen uns ja auch schnell finden und haben eine steile Lernkurve.
STANDARD: Das Etikett "neoliberal" wollen Sie nicht verpasst kriegen?
Strolz: Nein. Das würde nicht zu uns passen. Landläufig heißt das ja: ein ignorantes Leistungsschwein oder so, das tendenziell auf seinen eigenen Vorteil aus ist. Da sind wir meilenweit davon entfernt. Wir sind zum Beispiel für eine Finanztransaktionssteuer. Nicht die klassische Zuschreibung an eine neoliberale Partei.
Travnicek: Aber gerade so was Ähnliches wie die Julis gesagt haben - jeder soll nur für das bezahlen, was er auch benutzt - haben Sie im Programm drin: verursacherbezogene Abgaben.
Strolz: Ja. Vor allem im Umweltbereich. Das halten wir für wichtig.
Travnicek: Es gibt zum Beispiel eine kilometerabhängige Abrechnung der Autobahnmaut. Da frage ich mich: Wie passt das mit Privatsphäre zusammen?
Strolz: Das muss man natürlich so organisieren, dass private Daten geschützt sind. Aber gerade im Umweltbereich ist nichts effizienter und besser als Kostenwahrheit.
Travnicek: In Ihrem Programm ist die Rede von "Vorbereitung von punktuellen Privatisierungen". Gibt es Dinge, von denen Sie sagen, die gehören auf keinen Fall in private Hände, die sollten immer Gemeinschaftsgut bleiben?
Strolz: Ja. Die Schiene. Nicht der Zugverkehr, aber die Schiene ist ein natürliches Monopol, oder das Wasser und das Stromnetz. Soll der Staat behalten. Es hat keinen Sinn, dass man ein zweites Stromnetz baut. Aber der Energiebereich ist für uns ganz klar ein Wettbewerbssektor. Wenn der Wettbewerb besser funktionieren würde, hätten wir günstigere Energietarife. Da würden wir weiter liberalisieren, aber einen starken Kernaktionär: 25 Prozent plus eine Aktie in öffentlicher Hand. Man kann nichts gegen den Staat machen, aber man muss nicht mehr in jedem Landesvorstand von einem Energieversorger einen schwarzen oder einen roten Vorstand haben.
STANDARD: Was würden Sie mit diesen Privatisierungserlösen tun?
Strolz: Das würden wir gerne investieren in Bildung, Schuldenzurückzahlen, Forschung. Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir so etwas wie einen Pflegefonds brauchen. Wir haben in Österreich über 400.000 Pflegegeldbezieher und 120.000 Demenzfälle und bisher von der Politik keine Antwort, wie wir damit langfristig umgehen.
Travnicek: Apropos Bildung. Sind die neunjährigen Grundschulen, die Sie vorschlagen, die klassisch linken, ewig geforderten Gesamtschulen oder etwas Neues?
Strolz: Weder noch. Das ist ein Vorschlag, um diesen 30-jährigen Stellungskampf "Gesamtschule ja/ nein" zu beenden, weil man beiden entgegenkommen würde. Der SPÖ, die sagt, die Laufbahnentscheidung mit zehn ist zu früh, was natürlich stimmt. Und der ÖVP kommen wir entgegen mit Individualisierung und Differenzierung. Die zwei Schubladen jetzt sind eine Pseudodifferenzierung. Wir sagen: Bildungsziele definieren und den Weg dorthin freigeben. Das ist die Revolution. Wir ermöglichen damit Vielfalt, aber auch gleiche Chancen. Die Montessori-Schule ums Eck, die bisher nicht die gleichen Chancen hat wie eine öffentliche, hat dann plötzlich auch die Chance. Wir geben Eltern einen Bildungsscheck, den sie einlösen können. Und wir würden für eine gute soziale Durchmischung sorgen durch ein Indikatorenmodell. Bildungsfernere Schichten oder eine Schule im Waldviertel hätten eine höhere Pro-Kopf-Finanzierung hinterlegt, damit die auch Lehrer gewinnen können. Diese Ansätze gibt's, man muss sich nur umschauen.
STANDARD: Neos ist für "nachgelagerte Studiengebühren". Sie, Frau Travnicek, gehören als Studentin im Masterstudium Sinologie zur Generation Studiengebühr. Was halten Sie davon, nach dem Studium einen Kredit abzuarbeiten?
Travnicek: Soweit ich das Modell aus dem Ausland kenne, gibt es eine sogenannte Ausfallversicherung, die diesen Kredit abfangen würde, sofern man ein bestimmtes Lohnniveau nicht erreicht. Das finde ich durchaus eine faire Lösung, weil es genau die Art von Umverteilung wäre, die sich viele Leute immer wünschen. Wer sehr viel verdient, gibt der Ausbildungsstätte etwas zurück. Und es zeigt sich ja immer wieder, dass gerade vorgelagerte Studiengebühren, auch wenn sie sehr niedrig sind, eine gewisse Hemmschwelle vor allem für Personen aus Haushalten, die traditio-nell niemanden mit Hochschulabschluss haben, darstellen.
Strolz: Absolut. So verstehen wir es auch. Funktioniert in anderen Ländern. Würde ich sofort machen. Auch da könnte man diesen zwei dumpfen Koalitionszwillingen über den Schatten helfen. Die ÖVP will offensichtlich eine leistungsbezogenere Art der Studienplatzbewirtschaftung, okay. Die SPÖ sagt, keine soziale Hürde, jeder und jede soll studieren können, und das halte ich für immens wichtig. Wunderbar. Beiden ist gedient. Wir, die Neos, wären die idealen Mediatoren für die zwei.
Travnicek: Kommentatoren behaupten ja: Neos ist ÖVP in Pink. Wie viel ÖVP ist in Neos?
Strolz: Ich persönlich habe eine Geschichte mit der ÖVP. Ich habe auch schon Grün gewählt und liberal, aber in den letzten zehn Jahren war ich deklarierter ÖVP-Wähler, habe auch viel vor allem im Wirtschaftsbund beraten, mitgearbeitet. Aber meine Geschichte ist nicht zu verwechseln mit mittlerweile 6000 Menschen, die sagen, ich möchte Neos begleiten. Wir sind eine echte Bürgerbewegung, da gibt es die verschiedensten Herkünfte. I bin a Vorarlberger. Da gibt's nur Untergrund und die ÖVP. (Lachen) Da muss man sich irgendwann emanzipieren.
Travnicek: Aber mir ist aufgefallen, dass viele Leute, die beim Großteil der Forderungen mit Ihnen einer Meinung sind, dann beim Wirtschaftsliberalismus komplett zumachen und sagen: Das kann ich nicht wählen. Haben Sie da nicht Angst, dass Sie große potenzielle Wählergruppen auf beiden Seiten verschrecken? Denn ich muss das jetzt einfach sagen, Sie haben von links und rechts einiges genommen und in einen Topf geworfen. So schaut's aus. Ist das etwas ganz Neues? Ist das die Mitte? Oder ist das was, was am Ende keiner wählen kann, weil für jeden was dabei ist, das er nicht vertreten kann?
Strolz: Ich glaube, Neos ist die erste Zentrumspartei Österreichs, die aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Wir haben auch Arbeiter dabei, Bauern, Hausfrauen, aber ja, wir sind stark intellektuell getrieben, was uns logisch erscheint.
Travnicek: Es ist vielleicht der Aufstand der Einpersonenunternehmen ... (lacht)
Strolz: Und wir schielen nicht so sehr, wo können wir Stimmen verlieren, sonst würden wir auch das Pensionsthema nicht so angreifen, wie wir es tun.
Travnicek: Auch Dinge zu sagen, die den Leuten jetzt nicht gefallen, ist etwas, das mir grundsätzlich sympathisch erscheint.
Strolz: Wir stehen für Eigenverantwortung, und wir sind Freunde des Marktes, aber der braucht einen starken Staat als Gegenspieler, der den Rahmen setzt. Ja, Neos hat eine gewisse Hypothek aus dem Zeitgeist, dass wir eben als diese Wirtschaftssäcke gelten, oder wie auch immer. Natürlich soll man den Markt auch kritisch sehen, aber ich habe derweil kein besseres System gefunden auf diesem Planeten, das mehr Wohlstand für breite Massen garantiert hätte. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 14.8.2013)