"Als mir der neue Präsident des Verwaltungsgerichtshofs am Telefon gesagt hat, dass ich auf der Liste stehe, habe ich nur gesagt, mein Herz bleibt stehen, mir fehlen die Worte", erzählt Gerhard Höllerer.

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Sein erster Job vor 27 Jahren war es, im Wiener Landesgericht Urteile abzutippen. Nun wurde Gerhard Höllerer, der neben seiner Tätigkeit als Beamter im Wissenschaftsministerium ein Jusstudium absolviert hat, selbst zum Richter ernannt. Ab 2. Jänner 2014 wird der Jurist am neuen Verwaltungsgericht Recht sprechen – als einer der beiden ersten blinden Richter in Österreich. Maria Sterkl hat mit Gerhard Höllerer über seine neue Tätigkeit gesprochen.

derStandard.at: Dass blinde Menschen Richter werden können, war in Österreich bis jetzt nicht möglich. Sie haben sich trotzdem als Richter am neuen Verwaltungsgericht beworben. Hatten Sie positive Signale bekommen, dass es diesmal klappen könnte?

Gerhard Höllerer: Überhaupt nicht, im Gegenteil: Die Bewerbungsfrist endete am 22. Juli, und noch im Mai hieß es, wahrscheinlich sei Österreich noch nicht reif für blinde Richter.

derStandard.at: Waren Sie überrascht, dass es zwei Blinde geschafft haben?

Höllerer: Ja, das war Wahnsinn, unvorstellbar. Als mir der neue Präsident des Verwaltungsgerichts am Telefon gesagt hat, dass ich auf der Liste stehe, habe ich nur gesagt, mein Herz bleibt stehen, mir fehlen die Worte. Worauf er geantwortet hat, ich sollte nur bis Anfang Jänner meine Worte wiederfinden, weil ab dann müsse ich richten.

derStandard.at: In Deutschland gibt es blinde Richter seit einigen Jahren, aber Österreich blieb bisher hart. Warum hat es so lang gedauert?

Höllerer: Blinde Richter gibt es in sehr vielen Ländern, auch in entwicklungsärmeren Regionen. Dort war das nie ein Thema, in Österreich schon. Bei uns war die Zeit wohl noch nicht reif, vielleicht waren die Entscheidungsträger auch nicht ausreichend informiert. Man hat es uns nicht zugetraut. Irgendwann war der Druck zu groß, und man hat begonnen, sich Informationen zu holen. Ich glaube, ausschlaggebend war eine Tagung zum Thema Diversität in der Justiz im vergangenen Mai. Manche haben mir gesagt, dass die Tagung ihnen die Augen geöffnet hat. Wobei betont werden muss, dass wir nicht aufgrund der Behinderung genommen wurden. Man hat einfach gesagt, es gibt so gut qualifizierte blinde Bewerber, sie haben erreicht, was alle erreichen mussten – daher sehen wir kein Hindernis, sie zu nehmen.

derStandard.at: Werden wir bald auch blinde Richter an Landesgerichten oder Oberlandesgerichten erleben?

Höllerer: Ich bin davon überzeugt. Wir werden Arbeit leisten, die keine Mängel aufweisen wird – und sollten irgendwo noch Bedenken bestehen, werden wir sie sicher ausräumen. Das ist nur noch eine Frage der Zeit.

derStandard.at: Was werden konkret Ihre Aufgaben sein?

Höllerer: Ich werde Richter sein – mehr weiß ich nicht. Niemand der 168 Richter weiß, wo er arbeiten wird. Bis zum 20. Dezember muss es eine Geschäftsverteilung geben, am 2. Jänner geht es dann los.

derStandard.at: Wie wird sich Ihr Arbeitsalltag von dem eines sehenden Richters unterscheiden?

Höllerer: Kaum. Ich habe meine Hilfsmittel, also Braillezeile und Sprachausgabe. Bei der Sprachausgabe werden die Texte vom Computer vorgelesen, bei der Braillezeile werden die Texte tastbar.

derStandard.at: Wie lesen Sie den Akt? Digitalisierung ist am Gericht ja keine Selbstverständlichkeit.

Höllerer: Ich brauche die Unterlagen natürlich digital, das ist sehr wichtig. Wir sind da mitten in den Vorbereitungen, um zeitgerecht beginnen zu können. Wenn ich den Akt elektronisch bekomme, ist das mit Sprachausgabe oder Braillezeile überhaupt kein Problem. Ich habe auch ein mobiles Lesegerät, auf das ich mir Unterlagen für die Verhandlung raufladen kann. Sollte es den Akt noch nicht elektronisch geben, muss man ihn einscannen. Und zur Not kann man immer noch eine persönliche Assistenz beiziehen, die Dinge unterstützend erklären kann.

derStandard.at: Bisher hieß es oft, Blinde seien ungeeignet für das Richteramt, weil sie das Mienenspiel der Verfahrensbeteiligten nicht wahrnehmen könnten. Zu Recht?

Höllerer: Was Gestik und Mimik der Angeklagten betrifft, habe ich vielleicht sogar den Vorteil, dass ich von optischen Einflüssen nicht beeinflusst werde. Justitia hat ja auch die Augen verbunden. Außerdem kann man als Blinder aus der Stimme eines Menschen so viel herauslesen, dass man auf die kleinen Mimikspiele verzichten kann.

derStandard.at: Gibt es andere Dinge, die Sie noch besser können als sehende Richter?

Höllerer: Vielleicht bewusster zuhören, mehr in die Tiefe gehen, gezielter fragen. Aber sonst wird es keinen Unterschied geben. Ich werde kein besserer Richter sein, ich werde auch nicht anders richten.

derStandard.at: Es gab ja einige Kritik am Bestellungsmodus der Verwaltungsrichter. Der Vorwurf der Parteinähe stand im Raum. Für Sie nachvollziehbar?

Höllerer: Überhaupt nicht. Es war ein sehr aufwändiges, transparentes und sehr anstrengendes, mehrstufiges Verfahren. Ich war beeindruckt, wie das Verfahren gelaufen ist. Und ich kann bestätigen: Bei mir ist die Bestellung sicher nicht politisch passiert. Das kann ich guten Gewissens sagen.

derStandard.at: Sie haben neben einem Vollzeitjob in knapp fünf Jahren Jus studiert. Was hat Sie angetrieben, das Studium derart schnell abzuschließen?

Höllerer: Erstens bin ich beruflich angestanden, es gab keine Weiterentwicklung mehr, zweitens wollte ich es einfach wissen: Ich wollte wissen, ob ich es schaffen kann. Ich habe die Berufsreife nachgemacht und inskribiert und nach der Arbeit Pflichtübungen besucht. Am anstrengendsten war das Repetitorium Bürgerliches Recht, das hat den ganzen Sommer gedauert, von Juli bis Ende September. Da habe ich jeden Tag von sieben bis 15 Uhr im Ministerium gearbeitet, danach habe ich geschaut, dass ich auf die Uni komme, damit ich noch einen Sitzplatz in der Nähe einer Steckdose kriege, dort war ich dann bis 20 Uhr, und am nächsten Morgen bin ich wieder um halb sechs aufgestanden.

derStandard.at: Gab es damals digitale Skripten?

Höllerer: Nein, das war eine Katastrophe. Anfangs habe ich alles eingescannt und in Blindenschrift ausgedruckt, aber irgendwann war das so viel, dass meine Finger das nicht mehr ausgehalten haben. Ich hatte extreme Schmerzen in den Fingerkuppen. Heute gibt es an allen Uni-Standorten Blindenleseplätze, dort kann man sich Unterlagen digital aufbereiten lassen.

derStandard.at: Gibt es neben dem Richteramt andere Berufe, die sich Blinden nicht mehr verschließen sollten?

Höllerer: Ja: die Lehrer. Gott sei Dank können ab dem kommenden Wintersemester Behinderte auch an den pädagogischen Hochschulen studieren, bis jetzt konnte ein Behinderter ja nicht Volksschullehrer oder Hauptschullehrer werden, weil man eine "körperliche Eignung" nachweisen musste. Blinde konnten nur an Blindenschulen unterrichten, Gehörlose nur an Gehörloseninstituten. Auch hier war Deutschland viel weiter. Jetzt ist auch Österreich schön langsam reif für behinderte Lehrer. (Maria Sterkl, derStandard.at, 18.8.2013)