Gespenstisch ist nicht nur so manche Felsformation im Kalkstein unter Odessa, sondern auch die Vorstellung, dass die Katakomben-Stadt unter der Stadt vor rund 70 Jahren noch 6.000 Einwohner hatte.

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Ein Denkmal am Eingang erinnert an die rund 6.000 Partisanen.

Der Stein, auf dem Odessa steht, ist ihre Geschichte: Was oben verbaut wurde, schuf unter der Stadt eine zweite in Katakomben. Von Ingo Petz

Die Kalksteinwände leuchten orange im Schein der Funzeln. Es ist kühl. Es ist feucht. Langsam tastet man sich voran. An manchen Stellen muss man sich bücken. Links und rechts gehen Wege ab, aus deren dunklen Schlünden einem der kalte Atem der Tiefe entgegenbläst. Dieses Labyrinth, das unter der ukrainischen Hafenstadt Odessa wie ein engmaschiges Spinnennetz über Jahrhunderte gewebt wurde, könnte der Zugang zum Hades sein. Aber vor über 70 Jahren bedeuteten diese Gänge für diejenigen, die die Stadt im Zweiten Weltkrieg gegen deutsche Nazis und rumänische Faschisten verteidigten, vor allem eines: Leben.

"Verlassen Sie bitte die Wege nicht und gehen Sie nicht allein in einen der Tunnel", warnt Larissa Woronenko mit der Bestimmtheit eines Generals. "Kürzlich sind hier zwei Touristen verlorengegangen. Suchtrupps waren zwei Tage lang hier unten unterwegs. Immerhin wurden die beiden lebendig gefunden." So viel Glück hatten nicht alle, die sich in diesen Tunneln verirrten. Im Januar vergangen Jahres verschwand ein Student in dem Labyrinth - und wurde nicht mehr gefunden.

Karte und unbekanntes Gebiet

Die Verzweigungen der Katakomben von Odessa sind angeblich bis zu 2500 Kilometer lang. Diese Zahl ist allerdings nur eine Schätzung. Niemand weiß genau, wie viele Tunnel es gibt oder wie lang sie insgesamt sind. Bis heute wurden 1000 Eingänge entdeckt. "Die Gänge werden immer noch kartografiert", erzählt Larissa, "und es werden immer noch neue gefunden." Seit 1961 beschäftigt sich der Verein "Poisk" (Suche) mit der Erforschung dieser Welt unter der Stadt.

Als Odessa 1794 von der russischen Zarin Katharina der Großen gegründet wurde, entwickelte sie sich rasant zu einem wichtigen Handelsstützpunkt am Schwarzen Meer. Unter ihrem ersten Bürgermeister, dem Herzog von Richelieu, blühte Odessa auf. Paläste, Herren- und Wohnhäuser, deren schöne Fassaden bis heute das Stadtbild schmücken, wurden rasant hochgezogen. Als Baumaterial diente der reichlich vorhandene Kalkstein, der im Sommer kühlt und im Winter Wärme speichert. Das Baumaterial wurde in Schächten und Minen unter der Stadt abgebaut. So entstanden die Katakomben unter der Stadt und unter der weiteren Umgebung Odessas. Die Tunnel wurden bis zu einer Tiefe von 60 Metern unter der Erdoberfläche gegraben, die meisten Gänge liegen über- und untereinander, verzweigen sich kreuz und quer. Sie dienten als kühlende Aufenthaltsräume in den heißen Sommern und auch als Lagerräume für Lebensmittel.

Als freie Hafenstadt, deren Bürger keine Steuern zahlen mussten, zog Odessa viele Ethnien und Kulturen an: Juden, Deutsche, Griechen, Ukrainer, Russen, Tataren, dazu Händler, Sklavenhändler, Kriminelle und Schmuggler. Die berühmten Chansons aus Odessa besingen eine einzigartige Banditenkultur. Odessas Banden nutzten die Höhlen und Katakomben als Verstecke für sich und für ihre Schmuggler- und Hehlerware.

"Hier sehen Sie das Schlafzimmer der Frauen", sagt Larissa und zeigt auf eine mit Stroh ausgelegte Schlafecke, die aus Kalkstein gebaut wurde. Mittlerweile hat es nur noch rund zwölf Grad. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch. Dass sich hier monatelang sowjetische Widerstandskämpfer - darunter eben auch viele Frauen - während der Belagerung Odessas 1941 versteckten und lebten, ist schwerlich vorstellbar. "Man konnte nur nachts raus", erzählt Larissa und ihre Stimme hallt durch die Gänge. "Es gab für viele wochenlang kein Sonnenlicht. Die Haut wurde aschfahl. Und die Frauen, die als Botschafterinnen fungierten, rieben sich Make-up auf die Wangen, damit sie nicht auffielen. Denn sie mussten auch tagsüber an die Erdoberfläche, um den anderen Widerstandsgruppen Nachrichten zu überbringen."

Für Touristen wurden vor allem die Katakomben unter dem Dorf Nerubajskoje, das rund zehn Kilometer nördlich von Odessa liegt, zugänglich gemacht. Hier befindet sich ein kleines Museum, das den Partisanenkampf thematisiert. Überall in der Stadt werden den Besuchern, die meist mit dem Linienbus oder einem Sammeltaxi aus der Hafenstadt kamen, Touren zum Museum und in die Unterwelt angeboten. Rund 45 Minuten dauert die Führung durch Gänge und Räume, die, mehr als in Odessa, wie eine Filmkulisse wirken.

Es geht etwa 14 Meter tief unter die Erde, durch enge, kühle Gänge. Man sieht Kranken- und Schulungsräume, eine Küche, eine Bücherei mit vergilbten Büchern, die Kommandozentrale der Partisanen, spartanische Schlafräume und sowjetische Propagandaplakate. "Bis zum letzten Blut!" steht auf einem. Am Ende eines langen Tunnels steht ein einzelnes Maschinengewehr, mit dem die Partisanen unliebsame Eindringlinge in Schach hielten oder töteten.

Heldenhafte Ausweglosigkeit

Rund 6000 Partisanen sollen im Zweiten Weltkrieg, der in der Sowjetunion als "der Große Vaterländische Krieg" bezeichnet wurde, in den Katakomben gelebt haben. Ihr Kampf, der am 16. Oktober 1941 mit der Einnahme der Stadt durch die deutschen und rumänischen Nazis endete, brachte Odessa 1945 den sowjetischen Ehrentitel "Heldenstadt" ein. Und der bis heute vorwiegend nostalgische Umgang mit dieser euphemistischen Umschreibung für eine Ausweglosigkeit im doppelten Sinn, wird nirgendwo besser nachvollziehbar als hier unten.

Die Stille ist gespenstisch, so weit unten in der Erde. Die Wände scheinen zu atmen: feuchte Luft, alte Geschichte und noch ältere Legenden. Es gibt viele Geschichten von Goldschätzen, die sich irgendwo in den Tunneln befinden sollen, von Dämonen, die diese Unterwelt beherrschen, von Seglern, die sich in dem unendlichen Labyrinth verirrten und nun als Geister durch die Gänge heulen. Man starrt auf das Denkmal für die gefallenen Partisanen am Ende des Rundgangs. Es ist das steinerne Bild einer Frau mit kantigen Gesichtszügen und sehr traurigen Augen. Odessa ist auf Melancholie gebaut, das weiß man. Wer in die dunklen Augen der Melancholie blicken will, muss auch hierher kommen, tief unter die Erde. Er wird Odessa besser verstehen. (Ingo Petz, DER STANDARD, Album, 17.8.2013)