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Ein Foto als Dokument medialer Hemmungslosigkeit: Dieter Degowski bedroht sein Opfer Silke Bischoff 1988 in Köln. 

Foto: AP/Roberto Pfeil

Wien - Die Augusttage des Jahres 1988 waren drückend heiß in Deutschland. Das Land lag in Agonie. Menschen, die keiner Arbeit nachgehen mussten, saßen in ihren abgedunkelten Wohnungen. Die Fernsehapparate flimmerten. Kameras zeigten zwei ungepflegt wirkende Männer aus Nordrhein-Westfalen, Hans-Jürgen Rösner (31) und Dieter Degowski (32). Die beiden hatten eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck überfallen. Mit zwei Geiseln im Schlepptau nahmen sie vor der Polizei Reißaus. Das Fluchtauto hatten die Behörden gestellt.

Die auf den Morgen des 16. August folgenden 54 Stunden bilden den zeitlichen Rahmen von Peter Hennings Roman Ein deutscher Sommer. Binnen zweier Tage veränderte die alte Bundesrepublik ihr Gesicht komplett. Die Odyssee der beiden Revolverhelden führte über Bremen in die Niederlande, von dort nach Köln. Auf der A3 in der Gegend von Bad Honnef entschloss sich die zurückhaltend agierende Polizei endlich zum Eingreifen. Drei Menschen fanden auf der Irrfahrt den Tod, unter ihnen ein 15-jähriger Bub, der seine neunjährige Schwester zu schützen versucht hatte.

Den wahren Skandal lieferten nach übereinstimmender Meinung vieler die Medien ab. Ein ausgelaugtes Land war in den moralischen Bankrott geschlittert. Die Reporter hängten sich an Rösner und Degowski an. Die räumliche Nähe begünstigte ein ungesundes Klima der Kumpanei. Vertreter von Funk und Fernsehen versorgten die Verbrecher mit Erfrischungen. Im Gegenzug legten die Bankräuber bereitwillig ihre Gefühlswelt offen: "Gleich knallt's ...!" Unvergessen die Bilder, die die Geisel Silke Bischoff mit Degowskis Pistole am Hals zeigten. Unentwegt beteuerte die erschöpfte junge Frau, dass es ihr "gut" gehe. Am Ende starb sie im Kugelhagel des finalen Shootouts.

Vier Jahre lang hat Autor Henning die Umstände des Geiseldramas recherchiert. Die beiden Täter sitzen lebenslange Haftstrafen ab, Gnadengesuche wurden bis dato abgelehnt. Die belegten Fakten geben die detailgenau ausgeleuchtete Kulisse für etwas Größeres ab. Ein deutscher Sommer bildet den Versuch einer Mentalitätsgeschichte. Aus sieben Perspektiven nimmt das Buch den Gladbecker Sündenfall ins Visier. Erstellt wird das Psychogramm einer Gesellschaft im Übergang, die - nicht nur der Hitze wegen - ihre Konturen zu verlieren droht.

Hennings Figuren sind die Helden am Rande. Da ist der Pole Adam, der als Busfahrer in Bremen angekommen ist. In der Hansestadt kapern Rösner und Degowski einen Linienbus. 27 Geiseln geraten während Stunden in ihre Gewalt. Adam erklärt sich, ohne zu zögern, bereit, die Desperados auf ihrem Blindflug quer durch Niedersachen und Nordrhein-Westfalen zu chauffieren. Er tut sich als Einziger der kommunalen Angestellten leicht mit seiner Entscheidung. Er hat niemanden, der zu Hause auf ihn wartet. Courage ist ein knappes Gut in der Bundesrepublik Ende der 1980er-Jahre. Die Regierung Kohl gilt als Auslaufmodell. Erst durch die deutsche Wiedervereinigung sollte der Oggersheimer Kanzler in ungeahnte Sphären der Popularität entrückt werden. Das Lebensgefühl ist resigniert, Daseinsangst plagt die Gemüter. Die Gegenkultur liegt in Scherben, der Kommerz okkupiert die Institutionen. In den Redaktionssitzungen des Senders RTL wird das neue Ethos wie ein Mantra wiederholt: "Wirkung vor Wahrheit!" Und: "Wir befinden uns im Krieg um die besten Bilder da draußen!"

Klima der Resignation

Auf 600 Seiten gelingt es dem gelernten Journalisten Henning mühelos, ein Klima der Resignation zu erzeugen. Die Gesellschaft der Bundesrepublik besitzt kein Projekt, für das sie sich starkmachen könnte. Ihre durchschnittlichen Vertreter - der Reporter, der Bulle, die Verfasserin von Schundromanen - sitzen verloren in ihren Wohnanlagen und kultivieren Neurosen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Hennings Figuren ein obsessives Verhältnis zur Handhygiene besitzen. Es werden viele Hände gewaschen in Ein deutscher Sommer. Pontius Pilatus muss Germane gewesen sein.

Noch besser hätte es diesem beachtlichen Buch getan, wenn sein Autor den inneren Bürokraten kürzer an die Leine genommen hätte. Die Beschreibungen des Augustalltags fördern viele Redundanzen zutage. Gartenschläuche sind dann "grün". Papierspender hängen "an der Wand angebracht" - als ob jemand befürchtet hätte, sie klebten an der Decke. Aber auch so ist Henning etwas Wichtiges gelungen: die Darstellung einer Gesellschaft in Agonie. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 12.8.2013)