Michael Spindelegger hat wahr gemacht, was nach seiner Pressestunde zu befürchten war - die "Entfesselung der Wirtschaft" zur zentralen Botschaft des Wahlkampfes zu machen.

Wenn die österreichische Wirtschaft wirklich gefesselt wäre, müsste man sie tatsächlich entfesseln. Aber das ist sie nur in jenem Rahmen, den sich die Sozialpartner bereits in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts selbst gegeben haben. Dieser Rahmen hieß und heißt "soziale Marktwirtschaft" - wozu noch seit den 80er-Jahren gesetzlich fixierte Rücksichten auf die Umwelt gekommen sind.

Jene Entfesselung, die Spindelegger propagiert, ist ein neoliberaler Grundgedanke, der den Unternehmern freie Bahn verspricht und den Staat beiseiteschiebt. Was die Entfesselung durch die Schüssel-Regierungen gebracht hat, ist in diesen Tagen und Monaten in den Gerichtssälen der Republik zu besichtigen.

Spindelegger selbst ist ja auch kein typischer Entfesselungskünstler. So sieht dieser korrekt auftretende, von Gesinnungen getragene Mann nicht aus. Abgesehen davon, dass er in der christlich-sozialen Tradition seiner Partei aufgewachsen ist: Er sollte vielleicht bei Papst Franziskus nachfragen, was der von der "Entfesselung der Wirtschaft" hält. Vor allem mit Blick auf Kleinunternehmer aller Altersklassen, die gleich von Anfang an 50 Prozent des Verdienten (inklusive allfälliger Pensionen) weglegen sollten, um Steuern, Sozialversicherung und Beratungshonorare zahlen zu können.

Der Künstler Erwin Wurm hat in einem hart geführten STANDARD-Gespräch mit Bundeskanzler Werner Faymann vorgerechnet, dass bei einem Angestelltengehalt von 4600 Euro (Wurms Kosten) dem (der) Arbeitnehmer(in) nur 2000 Euro bleiben. Adressiert war das auch an Spindelegger. Denn zuerst müsste man wohl die Arbeitskraft entfesseln und dann erst die "Wirtschaft" - was immer die ÖVP darunter versteht.

Deshalb ist auch Spindeleggers Forderung nach einer "Reformregierung" windig. Nehmen wir die "Entfesselung" einmal positiv - dann müsste die ÖVP eine dramatische Erhöhung der Forschungsbudgets verwirklichen. Denn die sind eine Grundlage für eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung.

Oder nehmen wir die Bildung generell. Wer ist denn da (nordische Länder ignorierend) für den Status quo? Die dominierenden Kräfte in der Volkspartei und Spindelegger selbst. Industrie und Wirtschaft haben sich in dieser Frage längst entfesselt, indem sie modernere Formen der Schulorganisation fordern. Da sollte sich der ÖVP-Obmann seiner eigenen Handschellen entledigen.

Und wie schaut es mit einer Reform der Demokratie selbst aus? Da können sich SPÖ und ÖVP nicht dazu durchringen, endlich die Voraussetzungen für Untersuchungsausschüsse nach deutschem Vorbild beschließen zu lassen. Damit wir die Kontrolle entfesseln.

Spindeleggers Entfesselungsslogan ist vor allem eine gefährliche Drohung gegen ihn selbst. Denn in vielem ist er der politisch Gefesselte. (Gerfried Sperl, Der Standard, 12.8.2013)