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Keine von den alten Damen ist Teta Marica. Hier handelt es sich um italienische Omas in der Katzenstunde.

Foto: apa

Ich versuche es, aber es will mir keine andere Phrase einfallen, als die von der "stehenden" Luft. Die Hitze ist jedenfalls "unmenschlich". Meine Freundin wartet im schattigen Haus auf die Zigaretten, die ich im Kiosk neben dem kleinen Marktplatz kaufe. Doch ich sehe Jere, der alleine bei seinem Stand wartet, dass jemand sein Gemüse kauft. Also kaufe ich noch zwei Biere und die Sonderausgabe der "Slobodna Dalmacija", die dem heutigen Feiertag der Heimatländischen Dankbarkeit und der Militäraktion "Oluja" gewidmet ist.

Jere ist noch ein Kind als der Krieg tobt und als seine ältere Schwester den "Pipak" (Tentakel) heiratet, der ein Säufer und Gewalttäter ist und nach wenigen Jahren aus Sutivan verschwindet. Weil auch ich damals einige unangenehme Begegnungen mit dem Pipak habe, plaudern Jere und ich über all die Faustwatschen, die er verdient.

Kein Schiff wird kommen

Jere und ich sind bald einig, daß der Pipak jeden Morgen sofort nach dem Aufwachen etwa siebzig Mal abgewatscht werden muß. Jere lacht: "Und falls er fragt, warum – sagen wir: Das sind nur die Zinsen, Alter!". Dann kommt die Teta (Tante) Marica.

Sie ist 93 Jahre alt, trägt ein Hauskleid aus Jersey auf dem winzige Blumen und Papagaien aufgedruckt sind. Teta Marica ist keine echte Tante von Jere, alle Stivanjani nennen Marica  so. Sie  wandert jeden Tag zur sonnenverbrannten Stunde durch Sutivan. Früher legt um diese Zeit das Schiff aus Split an der Großen Mole an und bringt Maricas Mann zurück, der in Split Besorgungen und Amtswege erledigt. Doch schon seit fast 30 Jahren ist die Linie Split-Sutivan eingestellt und nur wenige Jahre zuvor kehrt Teta Maricas Mann nicht mehr aus Split zurück.

An diesem Tag ist er auf dem Begräbnis eines Freundes, die Hitze quält ihn bis er umfällt und sich leise zu seinem soeben begrabenen Kumpel gesellt. Seit einigen Jahren ist Teta Marica dement und wartet jeden Tag zur "Katzenstunde", zu der die Hitze so groß ist, das ganz Sutivan den Katzen gehört, auf das Schiff aus Split. Doch zuvor hält sie an Jeres Gemüsestand.

Der Besuch der alten Dame

Erst besichtigt Teta Marica die Ware. Dann sagt sie ihren Spruch auf, der immer von ihrem Mann handelt, der in Split etwas erledigt, aber heute wohl nicht ankommen wird. Weswegen sie eine Suppe kochen will, aber kein Geld hat, um das Gemüse zu bezahlen, weil ihr Mann ja das ganze Geld in Split herumträgt.

Jere gibt Teta Marica einen kleinen Plastiksack und sagt ihr, sie solle ruhig alles nehmen, was sie für die Suppe braucht. "Ihr Mann zahlt halt morgen, Teta Marica! Keine Sorge!".  Dann kommt Teta Maricas Tochter. Ihre Bijouterie ist nicht billig, ihr Sonnenhut und das Kleid passen zueinander und ihr Takuin (Geldbörse) ist aus echtem Leder. Sie bezahlt das Gemüse und sagt zu Teta Marica: "Bis Papa aus Split kommt! Und jetzt geh´zur Bank dort und setz dich bis ich komme!".

Dann sitzt Teta Marica auf der Bank am Anfang der "Allee der Antifaschisten von Sutivan". Ich fahre mit meinem Fahrrad an ihr vorbei. Zwischen den Palmen am Ende der Allee sehe ich die Große Mole wo früher das Schiff aus Split anlegt und wo jetzt Yachten an Murings in der Dünung des Maestral schaukeln.

Von Kartoffeln und von Menschen

Der ehemalige stellvertretende Minister eines "Balkanstaates" sitzt in der Marina Bar, an der ich soeben vorbeifahre. Er winkt mir zu, denn man kennt einander seit den Mulac-Jahren. Neben ihm sitzt die Künstlerin aus einem anderen "Balkanstaat", die der wahre Grund ist, dass ich das Winken des ehemaligen stellvertretenden Ministers bemerke und mich dazusetze. Sie ist nun Witwe. Als wir halbwüchsige sind, ist sie aber nur ein heiteres Mädchen mit einem heiteren Namen, das ich heimlich und leidend unsterblich liebe.

Mir ist es völlig egal was am Tisch gesprochen wird, weil es mir genügt sie sprechen zu hören. Und wieder siebzehn zu sein. Den Ehemaligen höre ich gar nicht. Obwohl er redet. Erst als plötzlich die Rede von Darwin ist, höre ich was da gesagt wird. Was mich plötzlich so müde werden lässt wie einen Hundertjährigen. "Darwin ist längst widerlegt!" Sagt der ehemalige stellvertretende Minister. "Er sagt doch, der Mensch stammt vom Affen ab! Aber wie soll das gehen? Der Affe hat zwei Chromosome weniger als wir! Die Kartoffel hingegen hat genausoviel Chromosome wie wir! Also stammt der Mensch wohl von der Kartoffel ab! So ein Blödsinn!"

Die Witwe, einst die Hitze meines jungen Herzens, deren Name noch immer heiter ist, sagt: "Ja! Genau!". Dann zerpflückt sie die Big-Bang-Theorie in einigen wenigen Sätzen. Der Letzte lautet: "So ein Blödsinn!" Danach ist mein Herz genauso gebrochen, wie an jenem Tag vor mehr als dreissig Jahren, als das heitere Mädchen, die noch keine Künstlerin und keine Witwe ist, mir einen Brief schreibt, der ihre Heirat ankündigt. In London.

Unter der Pinie

Ich lehne das Fahrrad an die kleine Mauer in die mein Opa mit einem Nagel Name und Jahreszahl einritzt als der Beton 1968 noch feucht ist. Dann gehe ich zu der großen Pinie in deren riesigem Schatten unser Haus steht und wo unser Sohn nun spielt.  Hier ist immer schon mein Frieden, wenn ich ihn suche. Der Baum, das Haus, unser Sohn und das Fischerdorf Sutivan sind ein Bild, dass mir mit Sinn erfüllt scheint. Ich weiß nur nicht mit welchem. Ich muß wieder einige Nachmittage in Opas Hängematte unter der Pinie verbringen. Dann weiß ich es vielleicht.

Ganz ohne Kontemplation ist mir jedoch dreierlei klar: Niemals soll meine Freundin verwirrt durch den Hafen laufen, noch soll unser Sohn jenseits der Vierzig noch immer ein Ignoramus sein. Ein ehemaliger, stellvertretender Minister hingegen schon. (Bogumil Balkansky, 11.8.2013, daStandard.at)