Gekenterte Boote, dutzende tote oder halbverdurstete Flüchtlinge, Erstaufnahmelager in Italien und Griechenland in denen unmenschliche Bedingungen herrschen. Eindringliche Bilder und schockierende Zahlen vermögen den Fernsehzuschauer nicht mehr zu schockieren beziehungsweise erregen auch nicht mehr das nötige Mitgefühl für das Flüchtlingsleid, findet das ZDF. Aus diesem Grund startet der deutsche öffentlich-rechtliche Sender ein neues Doku-Format "um aufzuklären" wie es in der Ankündigung heißt.
Gecastete Konflikte
Dazu schickt das ZDF sechs Menschen auf die Reise in den Irak und nach Eritrea, um die realer Flucht zweier Familien "nachzuspielen". Bereits die ersten Minuten sind entlarvend: Das hier wird ein Abenteuer- und Selbsterfahrungstrip und bestimmt kein aufklärerisches Experiment. Und während sich die Dschungel-Camp-Teilnehmer zumindest ehrlich und offen zum Deppen machen, will uns das ZDF mit seiner bemühten Aufklärung für dumm verkaufen.
"Auf der Flucht – Das Experiment" heißt der Vierteiler und unterschiedet sich mit keinem Ton und keiner Szene von den gewöhnlichen, reißerischen, menschenverachtenden Reality-Formaten, die täglich im deutschen und österreichischen Privatfernsehen zu sehen sind. Die Protagonisten sind mit Bedacht gecastet und die beiden Teams, die perfiderweise Team-Afrika oder Irak-Team genannt werden, hinsichtlich Konfliktpotenzial perfekt zusammensetzt. Schauspielerin Mirja du Mont, der ehemalige Neonazi Kevin Müller und die türkischstämmige Sozialarbeiterin Songül Centinkaya reisen in Richtung Eritrea. Das ehemalige "Böhse Onkelz"-Mitglied Stephan Weidner, Bloggerin und Sarrazin-Fan Katrin Weiland und Ex-Bundeswehrsoldat Johannes Clair machen sich nach Irak auf.
Naivität und Selbstmitleid
Bereits in den ersten Minuten der ersten Folge wird klar, wohin diese Reise eigentlich geht: Nämlich Richtung billiger Aufmerksamkeitshascherei. Der vorprogrammiere Konflikt zwischen dem Naziaussteiger Müller und Songül Centinkaya wird abwechselnd mit Bildern vom Zusammentreffen der Experimentteilnehmer mit den "echten Flüchtlingen", den Familien Azeez und Ykealo, dramatisch in Szene gesetzt. Während man sich über dreckige Toiletten im Flüchtlingserstversorgungslager mokiert, wird fleißig über Integration philosophiert. Überhaupt wird ständig der beliebten wie falschen Gleichsetzung von Flucht und Migration gefrönt.
Der naiv lakonische Zugang der Protagonisten macht einfach nur fassungslos und wütend. "Ich fühle mich wie auf der Führerscheinstelle", meint einer der Experimentteilnehmer, als er die "Tortur" der nachgespielten Datenaufnahme an der Grenze mitmachen muss. Doch es geht noch dreister: "Wie war das so für dich?", fragt du Mont den aus Eritrea Geflüchteten, während er davon erzählt wie sein kleiner Bruder bei einem Bombardement ums Leben kam. Seine Erzählung findet du Mont dann "interessant" und "cool".
Gar nicht cool reagiert Sarrazin-Fan Katrin Weiland auf die berührende Erzählung der Familie Aziz, die erst vor wenigen Monaten aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet ist. Der einzige halbwegs authentische Moment der ersten Folge – als der Vater von der lebensgefährlichen Fluchtreise in einem Lastwagen erzählt – wird vom hysterischen Schluchzen des Sarrazin-Fans Weiland unterbrochen.
Geschockt und erniedrigt
Mit Selbstmitleid hat auch Müller ständig zu kämpfen. Weil seine Nazivergangenheit kritisiert wird, will er aus dem Experiment austeigen noch bevor es richtig losgeht. Dann lässt er sich aber doch dazu überreden, bei der nächsten Station der Reise mitzumachen: Ein "Sicherheitstraining" steht an. In den Wäldern um den Kurort (sic!) Bad Kissing wird eine Geiselnahme simuliert. Ja, Sie haben es richtig gelesen: Sechs Menschen laufen mit Plastiksackerl auf dem Kopf und lassen sich "unter Stress setzen", wie die Sprecherin erklärt. Sie fühlen sich nachher auch wirklich "erniedrigt und gestresst", versichert die Sozialarbeiterin Centinkaya. Doch spätestens im zweiten Satz wird klar, dass sie auch über die Sinnhaftigkeit dieser Aktion grübelt: "Das was die Flüchtlinge erleben, werden wir nie empfinden können."
Wieso bloß?
Das wäre der richtige Abschlusssatz, um diesem skandalösen Fernsehexperiment bereits nach 30 Minuten ein Ende zu setzen. Die "unmittelbare und vorurteilsfreie Perspektive auf die Situation der Flüchtlinge", die uns ZDF mit "Auf der Flucht" liefern will, kann es und wird es in dieser verstörenden Reality-Doku bestimmt nicht geben.
Und spätestens wenn die Sprecherin im Promo-Trailer fragt: "Warum tut man sich das als zivilisierter (sic!) Westeuropäer an?”, frage ich mich: "Warum tut das ZDF sich und uns diese beschämende Show an? (Olivera Stajić, 8.8.2013, daStandard.at)