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Gut bewacht: Chinas Promi-Badeort Beidaihe, wo die kommunistische Führung unter Xi Jinping ihre Sommerklausur abhält.  Foto: Reuters

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Chinas "Esquire"  nannte Xu im August als eines von 60 Vorbildern für engagierte Bürger. Bei Erscheinen war er schon verhaftet.

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Das Ende der Sowjetunion 1991, die Selbstauflösung der Führungspartei KPdSU und der Bankrott ihrer Leitideologie bereiten der kommunistischen Regierung Chinas noch immer schlaflose Nächte. Das ist der Hintergrund einer ideologischen Breitseite, die derzeit höchste Propagandastellen auf Kritiker der Partei abfeuern lassen. Im Visier haben sie Intellektuelle, die sich für eine verfassungstreu regierte und demokratisierte Gesellschaft einsetzen.

Die Propaganda wirft ihnen vor, über die neuen sozialen Medien mit "Gerüchten und Negativmeldungen täglich den bevorstehenden Kollaps in China" herbeireden zu wollen: "Falls es aber in China zum Chaos kommt, würde es ungleich grausamer als in der Sowjetunion ausgehen." Unter dieser Überschrift verbreiteten die offiziellen Webseiten von Xinhua oder dem Parteiorgan Volkszeitung eine ausführliche Warnung in der Öffentlichkeit, was es bedeuten würde, wenn Chinas Führung Forderungen nach politischen Reformen westlichen Zuschnitts oder nach Einführung einer konstitutionellen Demokratie nachgeben würde.

Der Verfasser des Pamphlets trägt das Pseudonym Wang Shihua. Er wirft Kritikern der Partei vor, mit ihrer "Agitation und Hetze gegen die heutige Führung" den Samen für Unruhen in der Öffentlichkeit zu säen, so wie es einst mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion geschah. Nach der Demokratisierung, schreibt er, "wachten dort die Menschen in einem Land auf, das 14 seiner 15 Unionsstaaten verloren hatte. Die Bevölkerung zahlte mit ihrer Verarmung." Russland hätte sich über den Verkauf seiner Rohstoffe noch über Wasser halten können. Das ressourcenarme China wäre jedoch viel schlimmer dran. Demagogisch fragt er: "Was sollen die Chinesen dann essen? Wie sollen sie über den Winter kommen?"

Die Schreckensanalyse ist offenbar Teil der neuen Politik von Chinas Führung, mit allen Mitteln kritischen Dissens zu unterdrücken. In dieser Woche hat sich die neue Pekinger Führung unter Parteichef Xi Jinping offenbar zu ihrer Sommerklausur nach Beidaihe zurückgezogen. Sie wollen dort nicht durch Rufe nach politischen Reformen gestört werden.

Wirtschaft ja, Politik nein

Im Prominentenbadeort ringen sie um eine neue Agenda der Strukturreformen für ihr ZK-Plenum im Herbst. Reformiert werden soll nur die Wirtschaft, um den Abwärtstrend im Wachstum mit seinen gefährlichen Ungleichgewichten wie horrender Verschuldung, Überkapazitäten oder Immobilienblasen zu stoppen. China komme an weitreichenden Wirtschaftsreformen nicht vorbei, gestand Anfang der Woche Parteichef Xi Jinping. Politische Reformen aber soll es nicht geben.

Seit März wird immer deutlicher, wie die neue Parteiführung in die Fußstapfen ihrer Vorgänger tritt, wenn es um Dissidenten geht. Bisher seien 24 Bürgerrechtler verhaftet worden, meldete die Menschenrechtsorganisation Human Rights Defenders. Die meisten seien Aktivisten der "Neuen Bürgerbewegung" um den 40-jährigen Juristen und Uni-Dozenten Xu Zhiyong. Er hatte Mitte 2012 seine Ziele so beschrieben: Die Bürgerbewegung solle sich politisch für einen "zivilisierten Übergang von einer autoritären Herrschaft zu einer Verfassungsherrschaft" und sozial gegen Korruption, Machtmissbrauch und für Gerechtigkeit einsetzen.

Der charismatische Xu hatte einst die Gongmeng, die "Aktion offene Verfassung", als erste Bürgerinitiative zur Zivilgesellschaft gegründet. Seit 2003 setzte er sich für Benachteiligte der Gesellschaft ein, wie etwa Bauernarbeiter, die keine Bürgerrechte besitzen oder deren Kinder nicht auf Stadtschulen durften.

Im April wurde Xu in Peking unter Hausarrest gestellt und am 16. Juli festgenommen. Er hätte "Versammlungen zur Störung der öffentlichen Ordnung" geplant. Was dahintersteckt, hatten ihm drei Wochen zuvor hohe Beamte der Staatssicherheit gesagt. Sie holten ihn zum stundenlangen "Meinungsaustausch", um ihn zur Kooperation zu überreden.

Das misslang. Xu stellte Gedächtnisprotokolle ins Netz. Die Beamten hätten ihm verdeutlicht, warum Peking Leute fürchte, die sich mit Chinas Recht auskennen und mit sozialen Medien umgehen können. Sie würden als ernstzunehmende Bedrohung angesehen, sobald sie sich zu organisieren beginnen. Die Polizei drohte unverblümt: "Ihr behauptet, euch vernünftig zu verhalten. Ihr taucht aber in wenigen Monaten hunderte Male überall auf. Wenn wir euch nicht rechtzeitig stoppen, führt das zu sozialem Chaos."

Nach der Festnahme von Xu stellten am 24. Juli vier Bürgerrechtler, darunter der Ökonom Mao Yushi und der Unternehmer Wang Gongquan, einen Protestaufruf ins Netz. Die Bürgerbewegung verhalte sich "gemäßigt, vernünftig und verfassungstreu". Xu müsse freikommen. 446 Intellektuelle unterschrieben mit Namen und Beruf. Am 30. Juli waren es 2002, darunter Anwälte, Professoren, Ärzte, Künstler, Ingenieure.

Nach Xu Zhiyong fragte auch die neue US-Menschenrechtsbeauftragte Uzra Zeya jüngst beim US-China-Menschenrechtsdialog in Kunming. Xu gehörte zu den sechs Fällen, die sie dort namentlich ansprach. "Die Antworten blieben hinter unseren Erwartungen zurück." Besonders besorgt sei sie, wie auch Familienmitglieder drangsaliert werden, wie die Frau des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo oder die Verwandten des blinden Bauernanwalts Chen Guangcheng. In China halte die Verschlechterung im Umgang mit Menschenrechten an. (Johnny Erling aus Peking /DER STANDARD, 9.8.2013)