Joe Saccos neuer Band versammelt Comic-Reportagen, in denen es um traumatisierte irakische Haftentlassene, Asylsuchende auf Malta oder eben tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien geht.

 

 

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"Ah, du zeichnest? Zeig mal her!": In Paula Bullings "Im Land der Frühaufsteher" treten Asylwerber nicht als arme schwarze Flüchtlinge auf, sondern können ihre Ansprüche artikulieren.

 

 

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"Ich wollte mir meine Geschichte zurückholen", sagt die belgische Zeichnerin Judith Vanistendael über ihr Comic zur kafkaesken Asylgesetzgebung.

 

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"Unsere Flüchtlingspolitik mag abstoßend wirken, ist aber leider eine Notwendigkeit", nein, diese unbeabsichtigt sich selbst entlarvende Formulierung stammt nicht aus dem Mund der österreichischen Innenministerin, sondern von ihrem Malteser Kollegen, dem Hauptverantwortlichen für das Flüchtlingswesen in seinem Land.

In Joe Saccos Comic-Reportage Die Unerwünschten ist der Inselstaat Epizentrum wie auch allegorisches Beispiel europäischer Flüchtlingsproblematik und -politik schlechthin.

Europaweit gehören Asylwerber zu jenen Menschen, über die zwar allerlei gesprochen und vielfach verhandelt wird, die aber selbst nicht allzu oft zu Wort kommen. Zumindest in Comicstrips sind zuletzt die Situationen und Anliegen von Asylwerbern innerhalb der EU mehrfach zur Sprache gekommen. Und das Medium erweist sich im Umgang mit diesem hochkomplexen Thema als ungewöhnlich eigenständig, subtil und sehr originell.

Die Unerwünschten sind Teil in dem soeben auf Deutsch erschienenen Sammelband Reportagen des heute in Portland, Oregon, lebenden Zeichners Joe Sacco, der als Erfinder der Comic-Reportage gilt und erstmals Mitte der 1990er-Jahre (1993-1995) mit seinen Berichten aus Palästina (auf Deutsch 2004) Aufsehen erregte. Sacco gibt darin Menschen aus den besetzten Gebieten Gesichter und Stimmen und folgt ihnen mit seinem Zeichenstift bis in die desolatesten Flüchtlingslager und in ihre traumatischen Erzählungen von Schikane, Gefangennahme und Folter. Darauf lässt Sacco eine ebenso umfangreiche wie erschütternde Comic-Reportage über Bosnien (erschien auf Deutsch 2009) folgen, bevor der Autor abermals auf Gaza (auf Deutsch 2010) zurückkommt, mit einer beispielhaften Oral-History-Aufzeichnung zweier verschütteter Ereignisse aus den 1950er-Jahren in Chan Yunis und Rafah.

Saccos neuer Band versammelt kürzere Comic-Reportagen aus den vergangenen 15 Jahren, in denen es um traumatisierte irakische Haftentlassene, tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien, das Leben der Unberührbaren in Indien oder eben um Asylsuchende auf Malta geht. Für Die Unerwünschten kommt der gebürtige Maltese Sacco in sein Heimatland zurück. Als Kind ist er selbst von dort aus mit seinen Eltern nach Australien ausgewandert. Während damals die weißen Europäer auf dem Fünften Kontinent willkommen geheißen wurden, um die weiße Mehrheit zu stärken, gibt es heute Malteser, die eine Übermacht der Schwarzen befürchten.

Auf der anderen Seite sehen sich Asylwerber, die über Monate ohne Begründung und Informationen über den Stand ihres Ansuchens festgehalten werden, "behandelt, als wären wir Kriminelle". Durch raffinierte Gegenüberstellungen von Aussagen macht Sacco den Kreislauf deutlich, der auf beiden Seiten zu Frustration und Aggression, zu Ängsten und Ressentiments führt. Am Inselstaat werden Fehlentwicklungen gängiger Asylpolitiken in ganz Europa offensichtlich.

Den Comics vorausgeschickt hat Sacco sein Manifest, in dem er seine ästhetische Position als zeichnender Journalist reflektiert. Dabei verteidigt er den höchst persönlichen Blickwinkel und das durch die Zeichnungen unwillkürlich "subjektive" Medium Comic, das gerade damit ein Gegengewicht zu anderen, gängigen Medien darstellen kann. Diese Art der mühsamen Rekonstruktion, nämlich Kästchen für Kästchen zu zeichnen, überträgt sich auf die Wahrnehmungsweise der Leser: Im Augenblick der Lektüre wird dieser zum Verbündeten des Zeichners. Diese unhintergehbar aktive Form der Wahrnehmung ist eine der zentralen Stärken des Comics. Sacco versucht nicht, sich selbst aus der Geschichte hinauszuzeichnen, sondern tritt als Reporterfigur seinen Gesprächspartnern sichtbar gegenüber.

Und Sacco macht schließlich deutlich, wo seine Sympathien liegen, "nämlich auf der Seite derjenigen, die zu wenig gehört werden". Darum steht im Mittelpunkt seiner Reportage über Die Unerwünschten der Bericht des Eritreers John, der die Odyssee seiner Flucht schildert, die nicht Tage oder Monate dauerte, sondern Jahre - in seinem Fall waren es fünf. Bevor er auf Malta landete.

Persönlicher Blickwinkel

So wie andere in Deutschland gelandet sind. In ihrem Comicdebüt Im Land der Frühaufsteher (2012) - der Titel bezieht sich auf einen Werbeslogan des Bundeslands Sachsen-Anhalt - nimmt die deutsche Zeichnerin Paula Bulling die Situation der Asylantenheime unter die Lupe. Was sie findet, sind bedrückende Lebensbedingungen, strukturell bedingte Isolation und Entrechtung der Flüchtlinge als Folge einer gezielten Ausgrenzungspolitik. Und schließlich auch unaufgeklärte Fälle von vermutlich rassistischen Über-griffen, die wie im deutschen Fall von Azad Murad Hadji bis zum Tod geführt haben.

Doch die Autorin rückt überdies ihre eigene Position in den Blickpunkt und auch die Frage nach der Berechtigung, die Flüchtlingsschicksale künstlerisch zu verarbeiten. In dem dokumentarischen Comic ist es ein Freund der Zeichnerin, der die Problematik eines postkolonialistischen Standpunkts ironisch auf den Punkt bringt: "Du produzierst weiße Bilder von schwarzen Menschen." Dem widersetzt sich Bullings sensibler Comic ästhetisch mit effektiven Mitteln.

Die Asylwerber treten in ihrer Reportage nicht als "arme schwarze Flüchtlinge" auf. Sie heißen zwar exemplarisch Farid, Aziz oder Fatma, sind sich aber über ihre rechtliche Benachteiligung im Klaren und können ihre Ansprüche artikulieren. Die Flüchtlinge sprechen Französisch oder eine andere Muttersprache (gegebenenfalls mit deutschen Untertiteln) oder eben das Deutsch, das sie inzwischen erlernt haben. "In diese Ort ich frage mich: Wer bin ich ... und wie kann ich ein normal Mensch sein?"

Es geht um das Flüchtlingslager Möhlau, das sich drei Kilometer außerhalb des Ortes Raguhn befindet, eine baufällige Kaserne hoch oben im Wald.

"Sindse sicher, dasse da hinwollen?" Diese Entscheidungsfrage wird nicht den Asylwerbern gestellt, die hier untergebracht werden, sondern der Autorin auf der Suche nach dem Weg zum Asylantenheim. Ungeglättet lässt diese auch das Sächsische neben den anderen Sprachen stehen. Mit einem schmutzigen Strich nähert sich die Zeichnerin den Lebensumständen der Asylwerber an. Die Verteilung von Grau und Schwarz ist grob, abwechselnd mit Tusche, Filz- und Bleistift. Die weißen Flächen dienen nicht allein dem Kontrast, sondern auch der Andeutung, die teilweise Unfertigkeit der Bilder wird zum Generator der Wahrnehmung.

Unmittelbarkeit und Distanz

Ein weiteres Beispiel zum Thema stellt das autobiografische Comic-Debüt der belgischen Zeichnerin Judith Vanistendael dar. In Kafka für Afrikaner. Sofie und der schwarze Mann (auf Deutsch 2011 erschienen) spielt die kafkaeske Asylgesetzgebung eine hintergründige Rolle. Im Vordergrund steht die Liebe der 19-jährigen flämischen Belgierin Sofie zu dem Asylwerber Abou aus Togo. Eine Verbindung, die offenbar auch in der ehemaligen Kolonialstadt Brüssel selbst in aufgeklärt-liberalen Kreisen Panik, vorurteilsbegründete Ängste und Verunsicherungen auszulösen vermag. Die schrittweise Anfreundung der Eltern mit der Situation wird vor neue Herausforderungen gestellt, nämlich dann, wenn die Tochter sich entscheidet, den schwarzen Flüchtling zu heiraten, um ihn vor einer Abschiebung zu bewahren.

"Ich wollte mir meine Geschichte zurückholen", sagt die Autorin in einem Interview, nachdem ihr eigener Vater bereits ein Buch über ihre Geschichte verfasst hatte. Vanistendael lässt die Erzählung zuerst aus dem Blickwinkel des Vaters abrollen, dann aus der Sicht Sofies. Im zweiten Teil überlagern sich zudem auch zwei Zeitebenen, denn die Geschichte liegt bereits zehn Jahre zurück, Unmittelbarkeit und Distanz zum Geschehen werden also durch Rückblenden hervorgehoben.

Der ständige Perspektivenwechsel ist im Comic in der Struktur der Panels, wie die Kästchen bezeichnet werden, sichtbar. Um das veränderte Näheverhältnis auszudrücken, treten die Zeichnungen im zweiten Teil öfters aus ihren Rahmen heraus oder verlieren ihre gewohnte Form. Sofie und der schwarze Mann ist in einem kontrastiven Schwarz-Weiß gezeichnet. Das Changieren zwischen klaren Konturen und verwischten Schraffuren verleiht der Erzählung nicht nur eine expressionistische Note, sondern symbolisiert auch die Schwierigkeit, Grenzen zu ziehen, zu erkennen oder zu überwinden. Ganz wie in der europäischen Asylpolitik.   (Martin Reiterer, Album, DER STANDARD, 3./4.8.2013)