Um Flüchtlinge aus Österreich auszuweisen oder gar abzuschieben, bedarf es nicht nur einer negativen Asylentscheidung, sondern auch einer Prüfung, in der die verantwortlichen Behörden oder Gerichte sicherstellen, dass die "erzwungene Außerlandesbringung" menschenrechtskonform ist.
Die österreichische Verfassung untersagt auf Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausdrücklich Ausweisungen, durch welche die betreffenden Personen in ihrem Recht auf Leben bedroht würden beziehungsweise in Gefahr geraten, Folter oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt zu werden (Artikel 2 und 3). In den letzten Tagen wurde daher zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lage in Pakistan eine solche Bedrohung nicht ausschließt. Dass die Flüchtlinge sich in der Öffentlichkeit regimekritisch geäußert haben, verschärft das Gefährdungspotenzial noch.
Recht auf Privat- und Familienleben
Die Frage, inwieweit die Abschiebungen einen unverhältnismäßigen Eingriff in das ebenfalls durch die EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8) darstellten, erfuhr im Gegensatz dazu jedoch noch keine Aufmerksamkeit. Zwar leitet sich aus Artikel 8 EMRK kein absolutes Ausweisung- bzw. Abschiebeverbot ab, die zuständigen Behörden haben allerdings genau zu begründen, warum in vorliegenden Fällen das öffentliche Interesse an der Ausweisung mehr wiegt als das individuelle Interesse am Weiterführen des Privatlebens in Österreich. Daraus ergeben sich für die entscheidenden Instanzen konkrete Ermessensspielräume.
Integrationsleistung
Eine kürzlich durchgeführte Analyse von Entscheidungen des Bundesasylamtes und des Asylgerichtshofes hinsichtlich der Nutzung dieser Ermessensspielräume hat gezeigt, dass die Schutzwürdigkeit des Privatlebens in Österreich hauptsächlich anhand von Integrationsleistungen beurteilt wird – und hier wiederum insbesondere anhand einiger ausgewählter Kriterien, wie beispielsweise Nachweise über soziale Kontakte, Sprachkenntnisse, ehrenamtliche oder Vereins-Tätigkeit und Selbsterhaltungsfähigkeit. Durch die Forschung konnten wir unter anderem zeigen, dass in den Urteilen ein einseitig verstandener Integrationsbegriff zur Anwendung kommt und AsylwerberInnen, die dem Bild des/r angepassten, "bemühten Fremden" entsprechen, eher als integriert gelten.
Weiters stellten wir fest, dass bei AslywerberInnen, die sich erst kurz in Österreich aufhalten, die "Möglichkeit einer erfolgten Integration" von den Behörden für gewöhnlich kategorisch ausgeschlossen und auf jedwede Ermittlungstätigkeit verzichtet wird. Dies, obwohl einige höchstgerichtliche Judikaturen ausdrücklich darauf verweisen, dass das Entstehen eines schutzwürdigen Privatlebens keine Mindestaufenthaltsdauer voraussetzt.
Bei den acht Asylwerbern aus Pakistan, die Anfang der Woche abgeschoben wurden, liegt diese Prüfung schon einige Monate zurück und wurde negativ beschieden. Seit November 2012 hat sich ihre Situation aber augenscheinlich verändert. Sie nahmen aktiv an den Protesten teil, die in Traiskirchen begannen und in Wien kontinuierlich fortgesetzt wurden.
Versuche, eine Wiedereinsetzung der Verfahren beziehungsweise eine Duldung zu erwirken, schlugen fehl und konnten die Abschiebungen nicht verhindern. Eine neuerliche Überprüfung der Schutzwürdigkeit der Privatlebens jener acht Pakistanis ist vor der Durchführung der Zwangsmaßnahme ausgeblieben. Dies hindert uns allerdings nicht am Nachdenken darüber, was im gegensätzlichen Fall geschehen hätte können.
Die Protestaktionen der Flüchtlingsaktivisten in Österreich stellen eine neue Qualität der Selbstorganisierung von AsylwerberInnen dar. Durch die Proteste meldeten sich Flüchtlingsaktivisten selbst zu Wort und konnten dadurch die Diskurse brechen, in denen sie entweder als Opfer oder als Kriminelle dargestellt werden. Ihre Forderungen zielen auf die Verbesserung des Grundversorgungssystems sowie des Asylverfahrens für alle Asylwerbenden ab. Sie verwehren sich dagegen, weiterhin räumlich, sozial und rechtlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Unter Bedingungen, die von struktureller Isolation gekennzeichnet sind, haben sie sich politisch organisiert und einen Weg gefunden, an der Gesellschaft zu partizipieren.
Soziales Netzwerk durch Protest
Im Laufe der Proteste haben die Flüchtlingsaktivisten ein großes soziales Netzwerk aufgebaut. Sie haben sich mit Menschen aus unterschiedlichem sozialen Hintergrund zusammengetan und enge Bindungen aufgebaut. Im Zuge der Proteste haben sie intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieben, Demonstrationen organisiert und ihre Standpunkte und Forderungen in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs eingebracht. Sie nahmen an öffentlichen Veranstaltungen teil und diskutierten mit ExpertInnen über ihre Lage. Sie haben mit den UnterstützerInnen in der Votivkirche und später im Servitenkloster das Leben geteilt, Nachbarschaftsfeste organisiert, Deutsch gelernt.
Wird die Schutzwürdigkeit des Privatlebens nach den Kriterien der Integration beurteilt, so bildet die spezifische Form des partizipatorischen Engagements der Flüchtlingsaktivisten in Österreich eine bedeutende Integrationsleistung, die gemäß Artikel 8 EMRK berücksichtigt werden sollte. Die Flüchtlinge konnten sich – zugegebenermaßen in kurzer Zeit – einen sozialen Raum schaffen, aus dem herauszureißen für sie eine gewichtige Intervention in ihr Privatleben darstellt. Vor diesem Hintergrund stellen wir zur Diskussion, dass das private Interesse am Verbleib in Österreich gegenüber einem öffentlichen Interesse an der Ausweisung überwiegt. (Leserkommentar, Ilker Ataç und Judith Welz, derStandard.at, 1.8.2013)