(12:15:11 PM) bradass87: hypothetical question: if you had free reign over classified networks for long periods of time ... say, 8-9 months ... and you saw incredible things, awful things ... things that belonged in the public domain, and not on some server stored in a dark room in Washington DC ... what would you do?
Bradley Manning im Chat mit dem Hacker Adrian Lamo

Der Prozess gegen den Obergefreiten Bradley Manning vor einem Militärtribunal in Fort Meade ist mit einem Schuldspruch zu Ende gegangen. Als Präzedenzfall für vergleichbare Verfahren, wie etwa den Fall Eward Snowden, sowie für den generellen Umgang der USA mit dem Recht auf Informations- und Redefreiheit und dem Schutz der Privatsphäre ist er kaum zu unterschätzen.

Nähern wir uns dem Fall und den Fragen, die er für unser Verständnis von Demokratie aufwirft, über den Philosophen und Historiker Michel Foucault. Was hat der 25-jährige US-Obergefreite mit dem 1984 an Aids verstorbenen Professor für die Geschichte der Denksysteme am Pariser Collège de France zu tun? Viel, wenn es um die Praxis des Wahrsprechens geht, die Foucault in seinen letzten Vorlesungen am Collège ausgehend von dem griechischen Begriff der Parrhesia entwickelt hat.

Etymologisch betrachtet bedeutet Parrhesia einfach nur "alles zu sagen". Derjenige, der Parrhesia gebraucht, ist ein freier Bürger, der nichts verbirgt, der die ganz Wahrheit sagt, direkt und unmittelbar, ohne Umschweife und ohne Rücksicht auf sein Gegenüber. Neben dieser positiven Bedeutung hat die Parrhesia auch eine negative. Denn wenn Parrhesia bedeutet, alles zu sagen, wirklich alles ohne Unterschied und Einschränkung, was einem gerade so in den Sinn kommt, dann besteht die Gefahr, dass sie zum leeren Gerede und Geschwätz wird.

Diese Doppeldeutigkeit der Parrhesia ist es, die Manning und Snowden in der öffentlichen Meinung scheinbar zugleich zu Helden und zu Verrätern macht: sowohl zu mutigen Informanten und politischen Aktivisten als auch zu vaterlandlosen Schwätzern, sowohl zu pflichtbewussten Bürgern als auch zu moralisch zweifelhaften Subjekten, die nur auf ihre eigenen Interessen schielen.

Paradox der Demokratie

Diese Doppeldeutigkeit ist aber auch das grundlegende Paradox der Demokratie. Foucault unterstreicht wiederholt, dass die Parrhesia "zuerst und im Grunde ein politischer Begriff" ist. Denn einerseits ist die Demokratie untrennbar mit dem Recht verbunden, das Wort zu ergreifen und die Wahrheit zu sagen. Wenn jedoch allen erlaubt ist, alles Mögliche und Beliebige zu sagen, selbst die für die Demokratie und den Staat gefährlichsten Dinge (der Ruf nach dem "starken Mann"), dann ist, wie es scheint, die Demokratie selbst in ernster Gefahr.

Daraus ergab sich bereits für die alten Griechen die Notwendigkeit, zwischen zwei Formen der Parrhesia zu unterscheiden: einer schlechten, falschen und schwätzerischen einerseits und einer guten, wahren, echten andererseits. Als eine solche, allein an der Wahrheit orientierten Sprechweise ist die Parrhesia eine Form der Kritik, die sich von unten nach oben gegen die Mächtigeren richtet und in der die Sprechenden mutig das Wort ergreifen und ihrem Gegenüber die Wahrheit offen ins Gesicht sagen.

Das ist aber natürlich nicht ganz ungefährlich. Tatsächlich nimmt der Parrhesiast, so nennen die griechischen Autoren den Wahrsprechenden, ein nicht unerhebliches Risiko in Kauf. Den Preis, den er für seinen Mut im Extremfall zu zahlen hat, ist nicht weniger als der Tod. Das ist nach Foucault zugleich der Kern der Parrhesia. Und derjenige, der von seinem Recht auf Parrhesia gebraucht macht, tut dies nicht etwa aus Unwissenheit, Naivität oder Übermut, sondern vielmehr deshalb, weil er es als Pflicht erachtet, den anderen zu ermahnen und ihm so zu helfen. Die Parrhesia erfordert doppelten Mut – sowohl seitens der Sprechenden als auch seitens der Angesprochenen – und eine doppelte Aufgabe: erstens die schwierige Aufgabe, die Wahrheit zu sagen, und zweitens die nicht weniger schwierige Aufgabe, die Wahrheit zu akzeptieren, "sie zu erkennen und aus ihr ein Prinzip für das Verhalten zu machen" (Foucault).

Akzeptieren die Beteiligten das parrhesiastische Spiel, dann bedeutet dies nicht nur einen Gewinn für die daran beteiligten Subjekte, sondern auch für die Demokratie, insofern eine Art Tausch stattfindet zwischen dem Souverän, "der die Macht hat, dem es aber an Wahrheit mangelt", und denjenigen, die die Wahrheit haben, denen es aber an Macht mangelt. Weist dagegen der Mächtigere, an den sich die Wahrheit richtet, das Angebot zurück und bringt er nicht den Mut auf, deren verletzende Folgen zu akzeptieren, dann geht das Spiel in der Regel mit einem Registerwechsel einher – vom Register der Sprache zum Register der Gewalt.

Diese Gewalt geht dabei in der Regel von demjenigen aus, an den sich das Wahrsprechen als kritische Mahnung richtet und den die gesagte Wahrheit verärgert und verletzt. Der eigentliche Adressat ist folglich nicht die Weltöffentlichkeit (für diese sind die "Enthüllungen" in erster Linie reine Informationen), sondern US-Regierung und Militär, denn nur für diese stellen diese Informationen eine verletzende Wahrheit dar.

Doch um diese Wahrheit zu erkennen und aus ihr ein Prinzip des Regierens zu machen, müssten die US-Behörden den Mut aufbringen, die Wahrheit zu akzeptieren – einen Mut, den sie nicht besitzen und den dagegen Manning und Snowden in Wort und Tat bewiesen haben. Kurz gesagt: Bestraft werden allein diejenigen, die die Wahrheit über das Unrecht sagen, während diejenigen, die das Unrecht begangen haben, völlig unbehelligt bleiben.

Der Fall Manning – wie auch der von Snowden – macht aber noch einen anderen Aspekt deutlich: Im Wahrsprechen setzen nicht nur Manning und Snowden ihr Leben und ihre Existenz aufs Spiel, sondern auch die USA ihren Anspruch auf Demokratie. Was die Fälle von Manning und Snowdens dabei besonders deutlich machen, ist – mit der US-Philosophin Judith Butler gesprochen – die radikal ungleiche Verteilung von Prekarität oder Verletzbarkeit. Während die US-Behörden einerseits alles dafür tun, um diese Verletzbarkeit auf ihrer Seite so gering wie möglich zu halten, indem sie sowohl die verletzende Wahrheit als auch die Prekarität ihrer eigenen Souveränität zurückweisen, tun sie andererseits alles dafür, um die Verletzbarkeit der Gegner zu maximieren.

Das erklärt auch, warum die Kritik und die Angriffe gegen Manning, Snowden oder auch Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange sich weniger gegen die Wahrheit des Gesagten richten, sondern vor allem auf die Unterminierung ihrer persönlichen und moralischen Identität und Integrität abzielen. Dabei spielen Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange ebenso eine Rolle wie Mannings Geschlechtsidentität und vermeintliche Transsexualität. Dabei geht es immer auch darum, die persönlichen, moralischen und sozialen Qualitäten der Sprechenden infrage zu stellen, um damit die Glaubwürdigkeit und Authentizität ihrer Aussagen zu unterminieren. Denn auch wenn es nicht möglich ist, die offensichtliche Wahrheit infrage zu stellen, so doch denjenigen, der wahr spricht und sich in seinem Sprechen an das Gesagte bindet.

Wahrheit unterminieren

Gelingt es zu zeigen, so die perfide Strategie, dass derjenige, der die Wahrheit in seinem Namen sagt, sozial, moralisch, politisch gar nicht dazu befugt ist, wahr zu sprechen, so wird mit der Identität und Integrität des Sprechenden zugleich auch die gesagte Wahrheit selbst unterminiert.

Das ist, wie es scheint, das undankbare Los des Parrhesiasten. Und dennoch sind Bradley Mannings und Edward Snowdens mutige Akte der Wortergreifung so wichtig; denn sie gehören zweifellos zu jenen "Vergehen", die, wie man in Anlehnung an Judith Butler sagen könnte, begangen werden müssen, um die Bereiche des sozialen und politischen Lebens zu erweitern und das Überleben der Demokratie zu sichern. (Gerald Posselt, DER STANDARD, 1.8.2013)