Ägypten sei nicht Tunesien, hieß es im Jänner 2011, als nach dem Sturz Ben Alis auch in Kairo die Menschen auf die Straße zu strömen begannen. Und jetzt ist die islamisch geführte tunesische Regierung ihrerseits davon überzeugt, dass Tunesien nicht Ägypten ist: dass kein Anlass dafür ist, den politischen Prozess abzubrechen und neu aufzusetzen, so wie das ihre Gegner wollen, für die der Sturz Mohammed Morsis Inspiration ist.

In Tunesien liegen die Dinge nicht einfach. Es ist richtig, dass die Ennahda-Partei, die ihre ideologischen Wurzeln in der Bewegung der Muslimbrüder hat, weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Der politische Fahrplan ist stark verzögert, was dazu führt, dass ihre Kritiker die Legitimität, die sie durch die Wahlen erworben hat, als abgelaufen erklären. Vor allem hat sie jedoch durch ihr unsauberes Verhältnis zum gewalttätigen Sektor der Salafisten enttäuscht – und sich so mitschuldig an der salafistischen Gewalt gegen Linke und Liberale gemacht.

Dennoch ist der politische Prozess, ganz anders als in Ägypten, in Tunesien prinzipiell auf Schiene. Der Verfassungstext, der in seiner ersten Fassung vorliegt, wurde nicht im Alleingang einer Gruppe durchgedrückt, und Referendum und Neuwahlen sind absehbar. Die Enttäuschung vieler Tunesier und Tunesierinnen ist verständlich – aber ägyptische Verhältnisse können sie sich auch nicht ernsthaft wünschen.  (DER STANDARD, 31.7.2013)