Der Übergang nach Nordirland ist fließend. Wer auf der Autobahn von Dublin gen Norden rollt, wird einzig die Farbänderung des Begrenzungsstreifens bemerken. Das schmale, gelbe Band glänzt plötzlich jungfräulich weiß. Kein Zollhäuschen trennt die Republik Irland von den sechs Grafschaften, die zu Ulster gehören. Diese bilden zusammen Nordirland: eine betörende Gartenlandschaft, die im Spätfrühling unter der Last der Ginsterblüte förmlich erstickt.
Die Wollknäuel der Schafe in ihrem versengten Gelb wirken wie mit dem Pinsel hingesetzt. Der Lackanstrich der Häuser schmerzt ob seiner Frische in den Augen. Nordirland ist so etwas wie der kleine Bruder der Republik. Die Queen und ihr Prinzgemahl geben die Zieheltern ab. Der Nordire ist Fleisch vom Fleisch seines südirischen Bruders. Er befolgt die nämlichen Gepflogenheiten, trinkt bernsteinfarbenes Ale und kohlenschwarzes Guiness. Er ist mit der Abwehr der Folgen beschäftigt, die die Wirtschaftskrise für die ganze Insel zeitigte.
Wer hinter Belfast die Küstenstraße weiter hochschießt, bemerkt hunderte schmucke Einfamilienhäuser, an deren Gartentür das "Sale"-Schild prangt. Der Meerblick im Nordosten ist atembenehmend. Die Klippen werden von grünen Buckeln gekrönt, die Gischt leckt mit tabakbrauner Zunge über das Kalk- und Vulkangestein. Doch der Reihe nach. Belfast im Osten ist eine betont sachliche Metropole. Ihre klassizistische City Hall dominiert die Altstadt, in der Bankhäuser freundliche Mienen aus hellem Klinkerstein aufsetzen.
Umgeben ist die Hafenstadt von sanften Hügeln. Das Hafengelände bildet das eigentliche Identitätsmerkmal. In Irlands Brust liegen widersprüchliche Impulse miteinander im Streit. Niemand liebt sein Land hingebungsvoller als der Ire. Zugleich ist niemand landflüchtiger als er. Der Ire ist mit Recht stolz auf seine historischen Leistungen. Er lässt es sich aber nicht nehmen, die Wunden zu lecken, die ihm die Geschichte gerissen hat. Wunden und Kränkungen gibt es zahllose. Die Iren sind geborene Dialektiker. Unglück lässt sich nicht vermeiden. Aber sich unterkriegen zu lassen gilt nicht. Man zeigt die Narben her. Die Ire sagt: Meine Narben sind womöglich die schönsten Narben auf der ganzen Welt.
Stolz auf das Unglück
Nehmen wir nur die vermaledeite Titanic her. Dieses Luxusschiff lief in Belfast aus, um 1912 einen Eisberg zu rammen. Andere würden dieses Unglück vielleicht zu leugnen versuchen oder ihre Unzuständigkeit erklären. Die Nordiren bekennen sich zu ihrer Titanic.
Belfasts ganzer Stolz ist ein Titanic-Museum. Das Gebäude ist dem Rumpf seines Sammlungsgegenstandes nachgebildet. Im Inneren wird einem multimedial eingebimst, wie das zuging zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Die Leinenindustrie war am Verröcheln. Im Exportgeschäft von Menschen nach Übersee war man erfahren. Was lag da näher, als ein paar Luxusliner zusammenzuschweißen, um im gehobenen Preissegment von der Reiselust des Jetsets zu profitieren?
Die Sache nahm bekanntlich kein gutes Ende. Die Erzählung der Titanic ist moralisch folgenlos geblieben. Hochmut kommt vor dem Fall. Zwei Jahre nach der Havarie dieses hilflosen Ungetüms rissen sich die Europäer gegenseitig in Fetzen. Die Iren entrichteten ihren hohen Blutzoll zum Beispiel in der Somme-Schlacht 1917. Gekniffen haben Iren aus Nord und Süd nie.
In Wahrheit scheint der Untergang der Titanic passiert zu sein, um Hollywood-Regisseur James Cameron zum Nachbau des Vergnügungsdecks anzuregen. Unvergessen die blauen Lippen von Leonardo DiCaprio. Das Museum Titanic Belfast macht auf sechs Stockwerken endlich Nieten mit Köpfen. Man bekommt den Eindruck, selbst am Dock zu stehen. Ohrenbetäubender Lärm hallt durch das Bauwerk, Schwarz-Weiß-Fotos werden auf wundersame Weise zum Leben erweckt. Rund 400.000 Nieten wurden dem Pott in seine Haut aus Stahlblech gedrillt. Noch in der zweiten Klasse lag der Passagier auf seidenen Linnen.
Genützt hat das alles nichts. Trotzdem wandelt tausende Menschen jedes Jahr die Nostalgie an. Im Nachbau des Ballsaals lassen sich gut betuchte Liebende gegen den Erlag von 6000 nordirischen Pfund, umgerechnet rund 7000 Euro, trauen. Wahrscheinlich erfährt das Ewigkeitsgelübde durch das morbide Ambiente eine heilsame Einschränkung. In Rufweite des Hightechmuseums liegen übrigens Filmstudios. Stars wie US-Regisseur Ridley Scott kommen gern nach Belfast. Auch Bill Murray wurde schon an den Ufern des Lagan gesichtet.
Die Weiterfahrt an die betörend schöne Nordküste führt an der Küstenstadt Larne vorüber. Orte wie Larne sind heute Geisterstädte. Was wie eine Spätfolge der Postindustrialisierung anmutet, drückt ein Stück Normalität aus. Katholiken und Protestanten liegen einander nicht mehr unausgesetzt in den Haaren. Larne musste in den Jahren des latenten Bürgerkriegs als Hafenersatz für Belfast herhalten.
Heute herrscht Ruhe. Das besagt zumindest die Theorie. Natürlich ziehen Angehörige einer der beiden Religionsgruppen an einem Feiertag die Fahne auf, die Protestanten zum Beispiel den Union Jack. Sofort ist Feuer am Dach. Oder: Organisierte Aktivisten lenken Umzüge durch die Stadtviertel der jeweils "anderen". Es kommt zu Ausschreitungen. Verstehen lässt sich das nicht. Besserwisserei empfiehlt sich schon gar nicht. Immerhin hatten wir in unseren Breiten den Dreißigjährigen Krieg.
Alteingesessene Iren zucken die Achseln. Besonders naseweise Besucher führen sie ohne besondere Freude zu den "Murals". Die Wandmalereien der militanten Gruppen zieren die Kaminwände in Belfasts Außenbezirken. Man knipst die Gebrauchskunst von Gruppen wie der IRA oder der "Ulster Defence Association" mit dem iPhone und kommt sich dabei reichlich dämlich vor. Die ältere Dame mit den Lockenwicklern im Haar, deren Hund aussieht wie ein entgleister Bär, könnte ebensogut Katholikin sein oder Protestantin. Man muss schon studieren, welcher Straßenzug in der Hut welcher Religionsgruppe steht.
Die bezauberndsten Winkel an der irischen Nordküste gehören den Riesen. The Giant's Causeway östlich der Whiskeystadt Bushmill besteht aus 40.000 Basaltsäulen. Jede von ihnen besitzt einen hexagonalen Querschnitt. Vor rund 60 Millionen Jahren ergoss sich frische Lava ins Meer, um im Nu zu erstarren. Angeblich stand die einzigartige Felsformation im Besitz des Riesen Fionn mac Cumhaill. Besagter Herr brach den Basalt aus der Küste heraus, um auf Stelen nach Schottland hinüberzustiefeln. Sein schottischer Kollege Benandonner soll Fionn inakzeptabel beleidigt haben.
Hochländer herausfordern
Auf den Stümpfen balancierend, forderte Fionn den tumben Benandonner zum Zweikampf heraus. Der Hochländer ließ sich nicht zweimal bitten. Leider hatte sich Fionn beim Bau der Landungsbrücke schrecklich verausgabt. Er verkleidete sich als Säugling. Zusammen mit seiner Frau harrte er des schrecklichen Besuchers. Benandonner rutschte, als er des vermeintlichen Kindes ansichtig wurde, das Herz in den Kilt. Wenn schon das Kleinkind so ein Riegel war, wie musste da erst der Vater ...?
Im herzhaften Sprühregen, der die Küste häufig zärtlich streichelt, erlebt man eine der schönsten Uferlandschaften der Welt. Auf den Basaltstrünken kann man herumklettern und den Zustand der eigenen Profilsohlen überprüfen. Im nahen Umkreis schmiegen sich malerische Städtchen in die Sandbuchten. Von der Ferne glänzen die frischen weißen Häuser wie Möwen. Orte wie Bellycastle oder Portrush verströmen einen Hauch von Riviera-Atmosphäre. Die Badehose braucht man nicht extra einzupacken. Der Atlantik erwärmt sich kaum. Er hat genug damit zu tun, die lieblichen Küstenstriche zu peitschen.
Mit der Einkehr in Derry werden Wohl und Wehe Nordirlands erst ganz deutlich. Die Stadt zerfällt zu Füßen der hoch gelegenen Altstadt in zwei Teile, den protestantischen und den katholischen. Recht fassungslos gewahrt man die Enklaven der einen Religionsgruppe im Häusermeer der zweiten. Dreifach gespannte Zäune frieden quietschbunte Kinderwippen ein. Abends wird man sich der irischen Gastlichkeit bewusst.
Derry, heuer regierende Kulturhauptstadt in Großbritannien (siehe Kasten unten), wird von reizenden Menschen bewohnt. Die Küche besitzt europäisches Flair. Von den vielen Jugendlichen, die über den Gehsteig streifen, will niemand in einen Schiffsbauch klettern, um auszuwandern. Und in den Exkasernen der britischen Armee siedeln jetzt Galerien. (Ronald Pohl, DER STANDARD, Album, 27.7.2013)