"Mit Gedichten ist es ein wenig so wie mit dem weiblichen Geschlecht": Ruth Klüger.

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"Sie hat das absolute Gehör für falsche, verräterische Töne", schrieb der Journalist Ulrich Weinzierl in einer Laudatio anlässlich ihres 80. Geburtstags in der "Welt": Die 1931 in Wien geborene Ruth Klüger wurde als Tochter eines jüdischen Arztes 1942 gemeinsam mit ihrer Mutter in die Nazi-KZs deportiert (Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt). Kurz vor Kriegsende gelang ihr im Jahr 1945 noch die Flucht; ihr Vater und ihr Halbbruder starben in der nationalsozialistischen Mordmaschinerie. Ihre Kindheitserlebnisse beschrieb sie in ihrem 1992 erschienenen, vielbeachteten autobiografischen Buch "weiter leben". 1947 emigrierte Klüger in die Vereinigten Staaten und lehrte Germanistik an der University of Virginia, in Princeton sowie an der University of California in Irvine. Gedichte waren es, sagt Klüger, die ihr geholfen haben, den Holocaust zu überleben: Ihr Gedichtband "Zerreißproben" (Zsolnay-Verlag), dem diese Texte entnommen sind, enthält auch zwei Gedichte, die Klüger 1944 im Alter von zwölf und dreizehn Jahren im KZ verfasst hat.

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Mit Gedichten ist es ein wenig wie mit dem weiblichen Geschlecht, von dem man früher gerne sagte, Frauen sollten einfach, in ihrer ganzen Schönheit "da sein"; nicht ihr Handeln und ihr Denken mache ihre Anziehung und ihren Wert aus, sondern ihre Existenz als solche genüge. Ihre Meinungen sollten sie für sich behalten und die Männer nicht mit ihrem Geschwätz verunsichern.

Ähnlich solle ein Dichter keineswegs erklären, was er mit seinen Versen sagen wolle. Ein vielzitiertes Wort von einem amerikanischen Dichter lautet dementsprechend: "A poem should not mean, but be."

Und doch kann keine Ermahnung, sich einem Gedicht einfach hinzugeben und nur den gelungenen Wortlaut zu genießen, uns hinweghelfen über die so verpönte Frage nach dem Inhalt und der Bedeutung der Worte, die eben keine reine Musik sind. Es ist unvermeidlich, dass wir interpretative Fragen stellen, statt einfach "wie schön!" auszurufen.

Kein "Ding an sich"

Denn ein Problem mit dem Lesen von Gedichten ist ja, dass man oft nicht weiß, was man mit dem einzelnen Gedicht anfangen soll. Mit einer Serie von Gedichten wird es gleich leichter, weil man sie dann in einen Zusammenhang stellen kann; ähnlich verhält es sich mit älteren Gedichten, wo man den biografischen oder historischen Hintergrund nachschlagen kann, was darauf hinweist, dass das Gedicht eben kein "Ding an sich" im luftleeren Raum ist, sondern ein Teil seiner Umgebung. Welcher Umgebung? Wir stochern am Text herum, versuchen, uns etwas einfallen zu lassen, manchmal kommt was Gutes, dann wieder nicht.

Die Dichterin ist meist froh, überhaupt gelesen zu werden, und erwartet nicht, dass sie obendrein noch verstanden wird. Der gemeine Leser fühlt sich vernachlässigt, wenn nicht geradezu verachtet. Die gelehrten wie auch die intuitiven Interpreten sind unzuverlässig. Die verschämte Bescheidenheit aber, die vom Dichter verlangt wird, hindert ihn daran, den falschen Auslegungen zu widersprechen.

Darum schütteln so viele Leute ihren Kopf bei moderner Lyrik und lesen sie kaum oder nie. Ansonsten geübte Leser von Prosawerken geben manchmal unverblümt zu, dass sie Lyrik "nicht verstehen". Und doch hat jeder eine Meinung zu gewissen Gedichten, jeder kann irgendwelche Gedichte auswendig und seien es nur Liedertexte und Kinderreime. Mehr als das: Zu gewissen Gedichten hat jeder eine intensive Beziehung und kann uns auch unschwer sagen, was sein oder ihr Lieblingsgedicht ist. Gedichte sind haltbarer als Prosa, aber da man sich mit ihnen einzeln anfreunden muss, wie mit Menschen, braucht man auch weniger von ihnen als von Prosatexten. Prosa verschleißt sich, will sagen, wird vergessen, Lyrik ist unverrückbar. An den Verkaufszahlen lässt sich Wert und Eindringlichkeit der Texte nicht ablesen. Man liest Kriminalromane, wirft sie weg und hat ein paar Wochen später vergessen, wer wen darin ermordet hat. Ein paar Rilke- oder Brecht-Gedichte hingegen bleiben uns wortgenau als verlässlicher Seelenbeistand und geistiges Hausgut.

Ich habe jahrzehntelang als Hochschullehrerin in Vorlesungen und Seminaren über Gedichte anderer gesprochen und gelegentlich selbst welche geschrieben. Als Interpretin tat ich mein Bestes, dem Dichter gerecht zu werden, doch als Verfasserin verstummt man und hofft nur, die Leser würden etwas von dem darin finden, was man meint, hineingesteckt zu haben. Man hofft, aber man darf keine Nachhilfestunden geben. Schließlich fragte ich mich, aus welchem, eigentlich nicht recht einzusehenden Grund wir davor zurückscheuen, die eigenen Verse selbst zu deuten, obwohl die Verfasser ja die Einzigen sind, von denen die Leser mit Sicherheit annehmen dürfen, dass sie sich etwas gedacht oder zumindest geahnt haben.

Dieses Tabu möchte ich nun brechen und mit der Auslegung meiner Gedichte ein Exempel statuieren. (Frauen, um auf die anfängliche Analogie zurückzukommen, sitzen ja auch heutzutage nicht mehr schweigend daneben, wenn man über sie verhandelt.) Ich möchte Gedichte vorstellen, die etwas mit meinem Leben zu tun hatten, und sagen, was es war. Oft war es etwas, das ich verdrängen wollte und das sich nicht verdrängen ließ. Manchmal verstand ich es erst später, als das Gedicht fertig dastand, manches blieb undeutlich. Das brachte mich darauf zu erkennen, dass Gedichte, wie Träume, eine Möglichkeit sind, die sich das Freud'sche Es vorbehält, um sich Luft zu verschaffen. Die Kommentare handeln von dem, was ich weiß, und dem, was ich glaube zu wissen.

Deutsche Sprache

In diesen Lauten, die ich zu verlernen
versuchte, weil die spitzen Konsonanten
das wunde Fleisch der Kinderjahre kannten,
von deren Land durch Meere zu entfernen

mir auch gelang, um unter andern Sternen,
in einer andern Mundart die verbannten
noch zu begraben, die doch innen brannten,
so wie Metalle, die nicht Asche werden:

In diesen Lauten löst sich nun die schmale,
die Kinderstimme, die klug-schlau das Leiden
in Verse stülpte, wie in eine Schale

und zeigt mir mühelos zum zweiten Male
in scharfen, unbiegsamen Zackigkeiten
den Trost der klaren, offenen Vokale.

Ich habe, bis ich mit sechzehn Jahren in die USA auswanderte, keine andere Sprache gehabt als die deutsche, und so innig mein Verhältnis zur deutschen Literatur war, so innig wollte ich sie loswerden und mir eine neue erobern. Als ich 1942 mit elf Jahren nach Theresienstadt deportiert wurde, konnte ich schon eine ganze Menge deutscher Gedichte auswendig, weil es in Wien nichts anderes mehr für mich zu tun gab, als Gedichte auswendig zu lernen. Da war kaum wer, mit dem ich reden konnte, als die Dichter, deren Wörter ich oft nicht einmal richtig verstand. Über unbekannte Wörter zu stolpern hat aber auch Spaß gemacht. Diese frühe und naive Bekanntschaft mit der deutschen Literatur, die nicht von der Schule herrührte (denn die gab es für mich nicht mehr), hat mich für immer geprägt – mehr, als ich's mir später gewünscht habe.

Die Ausgewanderten, auf die ich in New York stieß, sprachen so wenig Deutsch wie möglich, brachten es ihren Kindern nicht bei. Im College stürzte ich mich in und auf die englische Literatur, eine Bereicherung sondergleichen, und obwohl ich noch immer die deutschen Klassiker las, die in der städtischen Bibliothek leicht auszuleihen waren, so hätte ich mir damals nicht vorgestellt, dass ich einmal Germanistin werden würde. Deutsch war verpönt unter Juden, sogar die Schriftsteller und Philosophen schrieben auf Englisch, wenn sie's konnten. Ich habe mit meinem Mann, der gebürtiger Berliner war und noch dazu deutscher Historiker, in neunjähriger Ehe nie Deutsch gesprochen. Heutzutage nehmen mir's meine Kinder übel. "Es wär doch so leicht gewesen, wenn ihr's zu Hause gesprochen hättet, dann könnten wir's auch." Sie können nicht ermessen, wie belastend diese Sprache damals noch für unsereinen war.

Für mich war die deutsche Sprache, samt ihrer Literatur, abwechselnd ein Rucksack, das portative Gepäckstück par excellence, in das man alles Gute und Schöne und Notwendige hineinstopfen konnte und das leicht mitzunehmen war, wohin es einen halt verschlagen würde. Und dann war sie wieder ein Buckel, ein Makel, den man loswerden wollte, aber nicht konnte, weil er nun einmal angewachsen war. Im Gedicht steht dafür der Kontrast zwischen den "spitzen Konsonanten" und den "offenen Vokalen". "Deutsche Sprache" soll in der Regelmäßigkeit der alten, schönen Sonettform das Wiederfinden, Neuakzeptieren des Deutschen ausdrücken. (Ich bin mir übrigens bewusst, dass es sich knapp an der Grenze der Rührseligkeit befindet.)

Ist das Heimweh?

(in Memoriam Dorrit Cohn)

Zwei Professorinnen
reiferen Alters
erinnerungssüchtig mit verdrängtem Ortssinn
verwechseln im Volksgarten den Standort der Statuen
(den Grillparzer und die Sisi, ich bitt' Sie!)
stehn horchend in der kitzelnden Stille der Durchhäuser
und wie angenagelt bei der steinernen Mythologie vor der Burg.
Bestellen mit schlechtem Gewissen Kastanienreis.

Am Akzent erkennbar als Einheimische,
aber am Ausdruck häufig als Fremde,
kommen sie bei schnellgesprochenem Nestroy grade noch mit,
finden sie das Kopfsteinpflaster der Innenstadt
zu hart für ihre Damenschuhe von drüben,
treten sie in zu dünnen Mänteln
nach Museumsbesuch aus der Berggasse 19,
laufen sie mit roten Ohren und Nasen
gegen den schneidenden Wind im April.

Man hat Städte, denen man sich verbunden fühlt, oft auf unbehagliche Weise oder durch Erinnerungen, die sich streitsüchtig anfühlen, wie nicht aufzulösende Ambivalenzen. Ich habe derer mehrere im Kopf, aber keine ist so intensiv, so rätselhaft zerrend wie Wien. Denn aus Wien wollte ich, seit ich denken konnte, weg – einfach weg. Und nach Wien komme ich immer wieder zurück, auf der Suche – wonach?

Es ist nun schon ein halbes Leben her, als ich mit einer Kollegin, einer angesehenen Germanistin von der Harvard University, die wie ich aus Wien stammte und in Amerika lehrte, einen Wienbesuch plante. Sie war sich gar nicht so sicher, ob sie ihn wirklich absolvieren wollte. Ihre Mutter, erzählte sie mir, sei auf einer solchen Reise in ein Kurzwarengeschäft, in dem sie vor der Emigration Kundin war, gegangen. Die Besitzerin habe sie sofort erkannt und ausgerufen: "Schau! Die Frau Z! Wo sind S' denn die ganze Zeit gewesen, gnä' Frau? Habn S' bei der Konkurrenz eingekauft?"

Wir kamen uns ein wenig wie Wiedergänger vor, als wären wir allein in unserer Suche nach Vergangenem, während die Einheimischen oder, besser, die Dagebliebenen, alles, was wir verkörperten, ablehnten. Doch unser Besuch war keineswegs abenteuerlich, wir benahmen uns wie die gewöhnlichen Touristinnen – Park-, Theater- und Museumsbesuch – und aßen ausgefallenen Wiener Nachtisch wie Kastanienreis (mit schlechtem Gewissen, weil er dick macht). Nicht von ungefähr habe ich uns als ein wenig lächerlich in Erinnerung.

Das Gedicht soll die Zerreißprobe zwischen dem Gefühl des Dazugehörens und der Ablehnung ausdrücken. Das Wetter war unfreundlich, und wir waren unpassend angezogen. Weil jedoch unter der unauffälligen Oberfläche unerforschte Schichten lagen, hat der Hinweis auf Freud (Berggasse 19) sozusagen das letzte Wort.

Der andere Tod

Stundenglas, Sense und Totengerippe
verstauben zusammen mit alten Romanen.
Um die Ecke lauert der andre
Tod mit den chemisch gereinigten Namen.

Kommt aus guter Gelehrtenfamilie,
Ritter und Teufel hat er versteckt.
Spielt nur akademische Spiele,
Glasperlenspiele aus Intellekt.

Hat sich verlegt auf die Leserei,
wurde ein wissenschaftskundiger Mann. -
Bleibt aber trotzdem ein Scharlatan,
treibt aber trotzdem nur Zauberei.

Nicht der kleine Tod, deiner und meiner,
der windige Leichenbestattungsgreiner,
sondern der johlende Rattenfänger,
der alle Kinder abholende Sänger.

Strotzt im Parademarsch über die Märkte,
ist nur ein Uhrwerk von Kleidern umweht.
Ist denn da keiner, der es merkte
dass der Wind leere Fetzen bläht?

Zwar die Erwachsenen werden nicht weiser,
doch es fände sich noch ein Junge,
der riefe aus sieben-, achtjähriger Lunge:
"Des Kaisers Kleider spaziern ohne Kaiser!"?

Aber wie, wenn die Kinder es wissen,
und er braucht sie nicht irrezuführen,
wie wenn sie freiwillig mitmarschieren
zu Bergen, die sich auf immer schließen?

Den direkten Anstoß (siehe die vierte Strophe) zu dieser Ballade, wenn ich sie so nennen darf, gaben wohl ein paar erinnerte Verse aus Rilkes Stundenbuch:

"Ich kann nicht glauben, dass der kleine Tod,
dem wir doch täglich übern Scheitel schauen,
uns eine Sorge bleibt und eine Not."

Ich gehöre zu der Generation, die zuerst den Massenmord, einschließlich Kindermord, der Vernichtungslager erfuhr und dann mit der Explosion der ersten Atombombe den Beginn des sogenannten Atomzeitalters geistig verdauen musste. Den Tod des Einzelnen konnte man ohne "Sorge und Not" erwarten, aber nun war das Töten zur Wissenschaft geworden (Chemie, Biologie, Physik und alle anderen Natur- oder Unnaturwissenschaften), und für literarische Zwecke funktionierten die alten Symbole nicht mehr, so behauptet meine erste Strophe. Ich suche nach Vorbildern zur Abwehr der neuen Katastrophen, die wir uns selbst zufügen, und komme dann doch auf alte Geschichten zurück, die man neu deuten kann. Mein Gedicht ist also ein versteckt politisches, aber seine Metaphern sind dem Märchen entnommen.

Warum aber zwei Geschichten über Kinder? Die Legende vom Rattenfänger von Hameln über einen Massenkindermord hat ja etwas überaus Modernes, noch dazu, da die guten Bürger von Hameln durch Wortbruch und aus Geldgier mitschuldig daran sind. Dazu kommt die Wurzel der Eltern- und vor allem der Großelternliebe, nämlich die zaghafte, aber nie sterbende Hoffnung, dass die nächste Generation es besser machen wird als wir.

Dafür steht Andersens Märchen vom nackten Kaiser und dem Kind, das die Wahrheit furchtlos zu sagen wagt. Nur drehe ich diesen Höhepunkt der Erzählung um, da bei mir gar kein Kaiser da ist, sondern nur seine Kleider, hinter denen sich kein Lebendiges verbirgt, sondern geradezu das Gegenteil des Lebens, das Nichts. Die Kleider umwehen den Tod, gegen den man sich auflehnen könnte, einfach, indem man nicht mitläuft, wenn er uns – und nun wieder zurück nach Hameln – mit seinen unerhört raffinierten Mitteln scharenweise abholt.

Der Witz des Gedichts, wenn man ihm einen solchen zugesteht, ist der Einsatz zweier Märchen in einen überraschenden Zusammenhang oder, umgekehrt, die Interpretation zweier Märchen mit zeitgenössischer Anspielung. (Ruth Klüger, Album, DER STANDARD, 20./21.7.2013)