"Es ist, als würde sich eine Bank gegen einen Tresorraum entscheiden und ihr Geld in einem Zelt am Gehsteig aufbewahren." Mit diesen Worten fasst der Neurowissenschafter Liam Drew im Magazin "Slate" recht anschaulich zusammen, was Biologen seit langer Zeit rätseln lässt: Wie konnte es der evolutionäre Ausleseprozess zulassen, dass die Fortpflanzungsorgane der meisten männlichen Säugetiere ohne Schutz von Knochen oder ähnlichem "außerhalb" des Körpers liegen? Gerade die Hoden bzw. die dort produzierten Spermien sind doch das eigentliche evolutionäre Kapital (neben den weiblichen Eierstöcken natürlich, aber sie sind ja deutlich besser geschützt).

Die Temperaturfrage

An dieser Stelle werden vermutlich die ersten Zwischenrufe laut: "Aber das ist doch längst geklärt! Spermien funktionieren in einer Umgebung, die unter der normalen Körpertemperatur liegt, besser – darum wurde ihre Produktion an eine kühlere Stelle ausgelagert." – Doch bitte noch warten mit dem Posten, dieser vermeintliche Gemeinplatz ist nämlich nur eine Hypothese. Und es gibt einiges, das dagegen spricht.

Zum Beispiel der Umstand, dass bei einer ganzen Reihe Säugetiere die Hoden in der Bauchhöhle – wo sie sich ursprünglich bilden – verbleiben: Etwa bei den Walen oder den Afrotheria (also z.B. Elefanten, Seekühe und Erdferkel). Und dennoch vermehren sich diese Tiere problemlos – wie auch die Vögel, die im Schnitt eine höhere Körpertemperatur haben als Säugetiere und dennoch ihre Hoden nicht auslagern mussten. Gegner der "Kühlungshypothese" sagen daher, dass der Zusammenhang genau andersherum verläuft: Spermien geht es bei niedrigeren Temperaturen deshalb besser, weil die Entwicklung des Hodensacks "kälteliebende" Spermien bevorzugte.

Weitere Hypothesen

Drew spricht von der Freude, die ihm die geradezu detektivische Arbeit bereitete, die verschiedenen Hypothesen zum evolutionären Ursprung des Hodensacks durchzugehen und auf ihre Plausiblität abzuklopfen. Und es sind einige ebenso verblüffende wie exzentrische dabei: Von der "Abhärtungshypothese" für besonders durchsetzungsfähige Spermien bis zur Zurschaustellung von Hoden als Signal der Fruchtbarkeit und Paarungsbereitschaft. (Letzteres verknüpft Drew mit der Anekdote über eine Kollegin, die aus dem Urlaub zurückkehrte und Fotos von den prächtig himmelblauen Hoden eines Meerkatzenmännchens herumreichte.)

Die Frage muss letztlich ungeklärt bleiben. Doch die Hypothese, die den Wissenschafter am meisten überzeugt, geht von einem ganz anderen Ansatz aus. Hierfür wurden die diversen Säugetierarten mit internen und externen Hoden auf Gemeinsamkeiten untersucht – mit dem Ergebnis der "Galopp-Hypothese": Die Fortbewegungsart eines Tiers wäre demnach der entscheidende Faktor. Wenn durch die jeweilige Art des Laufens Druckwellen aus dem Bauchraum auf die Fortpflanzungsorgane einwirken, dann werden letztere in ihrer Funktionalität eingeschränkt. Der Abstieg der Hoden aus der Bauchhöhle in den Hodensack wäre damit also doch eine Schutzmaßnahme gewesen – wenn auch nicht gegen externe Gefahren, sondern gegen eine selbstverursachte.

Liam Drew hat sich dem Thema aus evolutionärer, historischer und anatomischer Perspektive genähert und es verstanden, das Ganze in ebenso fundierter wie amüsanter Form zu präsentieren. Den vollständigen Text finden Sie hier:

--> Slate: "The Scrotum Is Nuts"

(jdo, derStandard.at, 20. 7. 2013)