Werner Faymann spricht sich in EU-Angelegenheiten gern mit Angela Merkel ab und "schätzt ihre Arbeitsweise". In manchen Ländern Südeuropas hingegen tragen Gewerkschafter, die gegen die Kürzung des öffentlichen Dienstes protestieren, Plakate mit Merkel in SS-Uniform herum.

So hat jeder sein Bild von Deutschlands Rolle in Europa. Dahinter steht aber eine Realität, die schlicht lautet: Deutschland ist der Hegemon Europas, wenn auch ein sanfter und zögerlicher.

Und nach Lage der Dinge ist das keine Katastrophe.

Wenn man so etwas als Österreicher schreibt, setzt man sich Missverständnissen aus – auch wenn man jahrzehntelange Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, Deutschnationalismus und einer "Heim ins Reich"-Mentalität aufzuweisen hat. Wir haben ein heikles Sonderverhältnis zu den Deutschen. Selbstverständlich sind die wirtschaftlichen Bindungen mit Deutschland eng. Selbstverständlich gibt es in der nicht unbedeutenden FPÖ noch eine starke deutschnationale Strömung.

Aber auch liberale Beobachter werden nicht leugnen können, dass man Deutschland in Europa nicht mehr fürchten muss, sondern im Gegenteil der deutsche Einfluss überwiegend positiv ist. Ganz abgesehen davon, dass im Augenblick einfach niemand anderer da ist, der eine Führungsrolle in Europa übernehmen könnte. Das alte deutsch-französische Duopol existiert nur noch in Ansätzen, weil Frankreich sich nicht modernisiert hat.

Deutschland funktioniert - nicht nur als Wirtschaftsmacht, sondern als Gesellschaft. Konflikte werden letztlich zivilisiert und konsensual gelöst, es herrscht Rechtssicherheit, Kompromiss- und Integrationsbereitschaft. Natürlich ist die alte deutsche Bevormundungssucht als eine Art Nationalcharaktereigenschaft noch da - aber sie ist nicht, wie früher, Staatspolitik. Natürlich gibt es einen virulenten Neonazismus im Untergrund, aber wer auf offizieller politischer Ebene mit Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus spielt, ist viel schneller weg als etwa in Österreich. Und auch der Umgang mit muslimischen Zuwanderern ist erfolgreicher als in Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden.

Der italienische Philosoph Angelo Bolaffi hat soeben in einem Buch ("Cuore tedesco - Deutsches Herz", ausführlich besprochen in der "Süddeutschen Zeitung") Deutschland zum wünschenswerten Hegemon erklärt. Es sei eben nicht nur die wirtschaftliche Kraft, sondern das gesamtgesellschaftliche Modell - der konsensuale Prozess, die allgemeine Mäßigung, die fortschrittliche Umweltpolitik - das vor allem die Lateineuropäer anerkennen und (teilweise) übernehmen sollten.

Niemand verlangt von den Griechen, Spaniern, Italienern (auch Österreichern), sie müssten "alle Deutsche werden". Aber die Voraussetzungen des neuen deutschen Erfolgs - stabile soziale Verhältnisse, verantwortungsvolles Denken, Anlehnung der Korruption statt Anpassung, Bürgersinn überhaupt - würden auch die Lösung der griechischen, italienischen usw. Probleme viel leichter machen. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 17.7.2013)