Was bedeutet für die Zukunft der Demokratie in Tschechien und vielleicht darüber hinaus in Süd- und Osteuropa die Einsetzung eines Übergangskabinetts durch Präsident Miloš Zeman aus seinen Gefolgsleuten ohne Konsultation und Zustimmung der im Parlament vertretenen Parteien? Nach dem Korruptions-Abhör-und-Sex-Skandal um die Kabinettschefin des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Petr Nečas könnte Zeman durch Verfassungstricks auch im Falle eines Scheiterns seiner Vertrauten im Parlament die sogenannte "Experten-Regierung" bis zu den nächsten regulären Wahlen im Frühjahr im Amt halten. Zemans erwartete Schachzüge könnten die Parteien nur durch eine Selbstauflösung des Parlaments und frühzeitige Neuwahlen vereiteln, wofür allerdings drei Fünftel der Stimmen nötig sind.

Angesichts des engen Filzes von Politik und Wirtschaft auch in der Umgebung des umstrittenen Präsidenten und des Antrags der Staatsanwaltschaft zur Aufhebung der Immunität von Expremier Nečas wegen des Verdachts der Korruption schließen Beobachter weitere Überraschungen nicht aus. In dieser verworrenen und gespannten Situation sprach Karel Schwarzenberg, Chef der Partei TOP 09 und bis vor kurzem Außenminister, in einem Interview ("Kleine Zeitung", 14. Juli) eine geradezu dramatische Warnung aus: Zemans Griff nach der Macht durch eine rein formelle Interpretation der Verfassung erinnere an die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jänner 1933 in Deutschland und der Kommunisten im Februar 1948 in der Tschechoslowakei. Gerade als älteres Semester, das Diktaturen erlebt habe, wolle Schwarzenberg die Legalität der Republik mit vollem Einsatz verteidigen.

Ist diese Dramatisierung der gegenwärtigen Situation in Prag berechtigt? In seinen Erinnerungen an den Verlauf der Revolution von 1848 bezeichnete der große Denker Tocqueville die Erinnerung als Hindernis, um die Gegenwart zu erkennen: "So sehr trifft es zu, dass, wenn auch die Menschheit immer die gleiche bleibt, jeder geschichtliche Vorgang verschieden ist, die Vergangenheit nicht viel über die Gegenwart lehrt und die alten Bilder, die man in neue Rahmen zwingen will, immer schlecht wirken." Trotz seiner Warnung vor einem "zu guten Gedächtnis" war aber auch Tocqueville, der in seinen Werken eine Fülle von Einsichten auch über die Nichtvorhersehbarkeit, Unplanbarkeit und Unbeherrschbarkeit moderner Geschichte mitgeteilt hat.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der scheinbar so erfolgreichen Wende hat das Sicherheitsgefühl in den freien Gesellschaften jeden Sinn für die Gefahr von extrem rechts und links erstickt. Die Krise der Europäischen Union und die Unfähigkeit der demokratisch legitimierten Regierungen, die Gewalten des globalen Marktes zu zähmen, haben in den alten und neuen Mitgliedsländern das Vertrauen in demokratische Institutionen geschwächt und den Ex­tremisten von Griechenland und Frankreich bis England und Italien Auftrieb verliehen. Vor diesem Hintergrund könnte Schwarzenbergs Erinnerung des Vergangenen doch eines der Mittel sein, nicht nur Tschechien vor seiner Wiederholung zu bewahren. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 16.7.2013)