"Gefahr im Verzug", flüstern die Burschen, wenn die roten Brigaden durchs Dorf ziehen. Mittlerweile lernen sie auch Selbstverteidigungstechniken.

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Blicke folgen ihnen, wenn sie durch die Gassen gehen. Männer weichen zurück. Schon die Farben ihrer Kleider sind ein Tabubruch, eine Provokation in einem Land, wo Frauen sanft, still und gefügig sein sollen und nicht stark, laut und selbstbewusst. Ihre Kurtas, die Hängehemden, sind knallrot, die Hosen und Dupattas, die Schals, die die Brust bedecken, tiefschwarz.

"Rot steht für Kampf, Stärke, Schwarz für Protest", sagt Usha Vishwakarma. Die 25-Jährige ist die Anführerin der Roten Brigaden, wie sich die streitbare Mädchengang aus Lucknow nennt. Die jungen Frauen wollen die Straßen zurückerobern und Zeichen gegen die sexuelle Gewalt setzen.

"Sexuelle Gewalt hat riesige Ausmaße hier"

Die bestialische Gruppenvergewaltigung einer 23-Jährigen im Dezember 2012 hat Indien aufgewühlt, doch gebessert hat sich wenig. Kein Tag vergeht, an dem nicht neue Gräueltaten bekannt werden. Alle 21 Minuten wird eine Frau vergewaltigt. Und das sind nur die gemeldeten Fälle, die laut Experten lediglich die Spitze des Eisbergs sind. Doch Usha und ihre Rothemden machen Hoffnung, dass sich etwas tut. Eigentlich ist Usha Lehrerin. Sie lebt in Lucknow, der Millionenmetropole im Bundesstaat Uttar Pradesh.

Vergewaltigungen, Übergriffe, Pöbeleien sind Alltag. "Sexuelle Gewalt hat riesige Ausmaße hier", sagt Usha. Aus Angst verbieten viele Eltern ihren Töchtern sogar, zur Schule zu gehen. Auch Usha musste die Gewalt erfahren, als 2007 ein Kollege versuchte, sie zu vergewaltigen. "Meine Jeans hat mich gerettet", sagt sie. Doch das Trauma ließ sie nicht los.

Fast alle Schülerinnen Opfer

Seit 2008 unterrichtet sie an einer Nachbarschaftsschule. Dabei erfuhr sie, dass "fast alle meine Schülerinnen Opfer von irgendeiner Form sexueller Belästigung" sind. "Ich beschloss, gegen diese Geißel zu kämpfen." Im November 2010 formte sie die Roten Brigaden. Was als Arbeitskreis an der Schule begann, wurde zu einem Selbstläufer.

Mehr als 120 Mädchen sind inzwischen dabei, 15 davon bilden den festen Kern, die anderen stoßen ab und an dazu. Viele sind noch halbe Kinder, zwischen 14 und 18 Jahren sind die Mädchen. In der Gruppe fühlen sie sich stark und geborgen. Gemeinsam revoltieren sie gegen eine Gesellschaft, die ihre Frauen im Stich lässt und wie Gebrauchsgegenstände behandelt. "Wir wollen eine Vorreiterrolle spielen" , sagt Usha. "Wir glauben, dass sich die Männer ändern müssen."

Entschlossenes Üben

Sie machen Straßentheater, um die Abtreibung weiblicher Föten anzuprangern. Sie treten der Polizei auf die Füße, indem sie Berichte über Vergewaltigungen sammeln und wie Anklageschriften den Ordnungshütern übergeben. Sie protestieren und schreien sich die Kehlen heiser. Das stößt auf in einem Land, wo es sich für Mädchen nicht einmal ziemt, die Stimme zu erheben.

Und seit einiger Zeit schlagen sie auch zurück. "Khatre Ki Ghanti", frei übersetzt etwa: "Gefahr im Verzug", flüstern Jungen, wenn die Rothemden auftauchen. Ein Karate- und Kung-Fu-Lehrer hat sich bereiterklärt, die Mädchen in Kampfsport und Selbstverteidigung zu unterrichten. Noch sehen viele Schläge ungelenk aus, die meisten Mädchen sind nicht sportlich trainiert. Doch umso entschlossener üben sie.

Eine weibliche Bürgerwehr sind die Roten Brigaden nicht, aber sie lassen ihre Künste spielen. Ein paar Mal haben sie Missetäter vermöbelt. "Wenn ein Junge oder Mann sich daneben benimmt, beschweren wir uns erst bei seinen Eltern, dann bei der Polizei und den Medien. Wenn alles nichts hilft und er weiter Mädchen belästigt, verprügeln wir ihn", sagt Usha. "Die bösen Jungs haben Angst vor uns."

Mit der Zeit kam der Respekt

Erst haben Eltern und Nachbarn das Treiben misstrauisch beäugt. "Sie sagten, ich sei verrückt geworden", lacht Usha. Doch inzwischen hat sie mehrere Preise bekommen, Journalisten kommen, um über die wehrhafte Mädchentruppe zu berichten. Das erhöht ihren Status im Viertel.

Inzwischen wenden sich Menschen sogar hilfesuchend an die Gruppe. Wie der verzweifelte Vater eines 13-jährigen Vergewaltigungsopfers. Die Polizei scheuchte ihn weg, als er die Tat anzeigen wollte. In seiner Not ging er zu den Roten Brigaden, die bei der Polizei intervenierten. Nun sitzt der Vergewaltiger hinter Gittern und die Kleine ist Mitglied in der Mädchentruppe. Die Roten Brigaden seien ihre letzte Hoffnung für Gerechtigkeit, sagt der Vater. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, DER STANDARD, 15.7.2013)