Wo ich mein Auto letzten Sonntag geparkt habe, weiß ich nur deshalb, weil ich vergessen habe, wo ich es an den Tagen zuvor hingestellt hatte. Alles andere wäre schlimm: Wenn ich mir in gleicher Weise stets all die wechselnden Parkplätze im vergangenen Monat merken würde, hätte ich jetzt, wo ich mein Auto brauche, vermutlich keine Ahnung mehr, wo ich es suchen soll.

Es ist eben dieses Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen, das das Behalten für den Alltag funktional macht. Und an diesem Beispiel zeigt sich auch, dass beides gelegentlich doch unserem Wollen unterworfen ist. Zumeist allerdings gilt, was der niederländische Psychologe Douwe Draaisma in seinen Büchern über das Gedächtnis immer und immer wieder hervorgehoben hat: dass die Erinnerung, wie sein Landsmann Cees Nooteboom sagt, "wie ein Hund" ist, "der sich hinlegt, wo er will". Was man erinnert, oft drängt es sich auf - nur eben das nicht, was man gerade nötig hätte, das will sich partout nicht finden.

Im Alter dann wird alles nur noch schlimmer: der Name, der einem nicht mehr einfallen mag, und dass man plötzlich in der Küche steht und nicht mehr weiß, was man da eigentlich gesucht hat, "Vornamen", die vergisst man leicht und immer öfter, wenn man älter wird. Andererseits rückt einem gerade die eigene Adoleszenz näher: Was man über Jahrzehnte vergessen hat, taucht plötzlich wieder auf, so frisch, als ob's erst gestern gewesen wäre. Über all das - und noch viel mehr - hat Douwe Draaisma in seinen Büchern erzählt - Sachbücher, in denen dieser glänzende Schreiber interessierte Leser in die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Gedächtnisforschungen einführt.

Zuletzt hat der 1953 geborene Professor für Psychologiegeschichte an der Universität Groningen im Vorjahr ein Buch des Vergessens geschrieben: ein fröhliches Vagabundieren über Jahrhunderte der Forschung in Psychologie, Philosophie und Medizin hinweg, (fach)kundig aufbereitet, durchdrungen von einer unbändigen Lust am Fabulieren.

Dass unser Wissen über das Gedächtnis in vielerlei Hinsicht ungewiss ist, kommt diesem Erzähldrang natürlich sehr entgegen. Über verwirrend unklare Phänomene ist zu berichten - und oft auch über entsprechend kühne Theorien und Paradoxien wie etwa diese: dass nämlich das Gedächtnis kleiner Kinder im Moment gut zu funktionieren scheint. Zweijährige merken sich sehr gut, mit welchen Bekannten ihrer Eltern sie Spaß gehabt haben und mit welchen nicht. Sie müssen also ihre Erlebnisse behalten haben - und doch sind diese Erinnerungen, fast alle Erinnerungen an diese frühen Kindertage, wenige Jahre später bereits gründlich verschwunden, nachträglich sozusagen vergessen worden. Wie soll man sich dieses Phänomen der infantilen Amnesie erklären?

Für Freud handelt es sich um ein Beiprodukt jener Verdrängungsleistungen, die dem Kinde im Zuge seiner psychosexuellen Entwicklungen auferlegt sind. Hirnforscher verweisen - wenig plausibel - auf die verzögerte Ausreifung von Hirnarealen. Spannender sind Erklärungsversuche, die den Gedächtnisverlust in Bezug auf das frühe Kindheitserleben mit der Entwicklung der Sprache in Verbindung bringen. Die frühen Erfahrungen werden sozusagen in einem nichtsprachlichen Code aufbewahrt, mit der Entwicklung der Sprache steht ein neues Codiersystem für das Aufbewahren von Erlebnissen zur Verfügung. Erinnerungen, die nicht in Sprache gespeichert sind, sind verschwunden - nicht weil sie "gelöscht" sind, sondern weil der Zugang zu ihnen verloren ist.

Ähnlich argumentieren Forscher, die in diesem Zusammenhang statt der Sprache die Entwicklung des Ich-Bewusstseins mit dem zweiten Lebensjahr herausstellen: frühe, nicht Ich-kodierte Erlebnisse sind mit dem neuen Ich-Code nicht mehr zugänglich - und daher für uns nicht mehr auffindbar.

Wohin man seine Aufmerksamkeit auch wendet - allenthalben stößt man auf merkwürdige, erklärungsbedürftige, aber schwer zu erklärende Dinge: die Flüchtigkeit unserer Erinnerung an das eben Geträumte - was mir jetzt noch klar vor Augen steht, ich will es gleich aufschreiben in mein Traumbuch, im nächsten Augenblick aber ist es schon verloren. Dann der Traum selbst: Man erinnert etwas, das einem im Wachbewusstsein nicht zugänglich ist - Hypermnesie heißt dieses Phänomen in der Psychologie. Freud hat in seiner Traumdeutung den berühmten "Eidechsentraum" des belgischen Philosophen und Psychologen Joseph Delboeuf zitiert: Delboeuf träumt den lateinischen Namen einer Pflanze, von der er glaubt, noch nie zuvor gehört zu haben. Siebzehn Jahre später (!) erfährt er, dass er zwei Jahre vor diesem Traum in ein Herbarium für einen Freund den Namen der fraglichen Pflanze handschriftlich eingetragen hat. So als ob - wovon Freud überzeugt war - alles, was man einmal aufgenommen hat, im Gedächtnis fortbesteht, wobei nur weniges davon im Wachzustand spontan abrufbar ist; manches kehrt eben - ungesucht, wie von selbst - irgendwann in unseren Träumen wieder. Ein der Hypermnesie durchaus verwandtes Phänomen ist die Kryptomnesie. Erinnern und Vergessen sind dabei einen hübschen Kompromiss eingegangen: Weil man vergessen hat, dass man diesen oder jenen Gedanken schon einmal gehört hat, ist man felsenfest davon überzeugt, ihn gerade neu geboren zu haben.

Immer wieder gelingt es Draaisma in seinen Büchern, diese Spannung zwischen Erinnern und Vergessen geschickt auszunutzen. So z. B. in Bezug auf die Gesichterwahrnehmung: Experimentelle Befunde zeigen, dass wir, wenn man uns eine sehr große Anzahl von fotografierten Gesichtern - hunderte, ja sogar tausende hintereinander! - für nur sehr kurze Zeit zeigt, einzelne daraus später unschwer, d. h. ohne Fehler zu machen, von uns bisher nicht bekannten Gesichtern unterscheiden können. Aber nicht jeder hat ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Einigen fehlt es überhaupt: Prosopagnosie bezeichnet die Unfähigkeit, eine an sich bekannte Person anhand ihres Gesichts zu erkennen - eine Störung, die gar nicht leicht zu diagnostizieren ist, weil sie von den davon betroffenen Menschen im Alltag gut kompensiert wird: Sie erkennen den anderen eben an seiner Stimme, seinem Gang etc.

Natürlich dürfen die Pioniere der neurologischen Vergessensforschung nicht fehlen: Alois Alzheimer (1864-1915), der Entdecker der nach ihm benannten Demenz, Sergej Sergejewitsch Korsakow (1854-1900), der Patienten beschrieb, die an einem doppelten Gedächtnisverlust leiden: an einer retrograden und einer anterograden Amnesie. Bei retrograder Amnesie ist die Vergangenheit betroffen; bei der anterograden gelingt es dem Kranken nicht mehr, sich gerade Erlebtes, Gesagtes oder Getanes, allgemein: jede Art von neuer Information einzuprägen.

Aber nicht nur den Forschern, sondern auch ihren Opfern wird von Draaisma Raum gegeben. Zu den am besten gelungenen Teilen seines Buchs zählt das Kapitel über Henry Gustav Molaison (1926-2008), einen Epileptiker, dem man 1953 in einer experimentellen Operation in beiden Hemisphären Teile des Hippocampus entfernte. Für die damit erreichte Besserung seines Leidens zahlte HM - so das Kürzel, unter dem sein Fall in nicht weniger als 12.000 (!) wissenschaftlichen Publikationen zitiert wurde - einen hohen Preis. Ihm fehlte nun die Fähigkeit, neue Erinnerungen zu bilden, er litt also in der Folge - und zwar so deutlich wie vor ihm noch kein anderer bekannt gewordener Patient - unter einer anterogra-den Amnesie. Nach seinem Tod wurde sein Hirn in 2401 Schnit- te zerlegt; fotografiert und digitalisiert, soll das gesamte Ma-terial im Internet veröffentlicht werden.

Am Ende seines neuesten letzten Buches wird noch den boomenden kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien Reverenz erwiesen. Draaisma erzählt dabei von einer mit dem Aufkommen der ersten Daguerreotypien für kurze Zeit sich verbreitenden Form des Gedenkens an Verstorbene: von der Anfertigung sogenannter Todesporträts, Ablichtungen, bei denen die Verstorbenen so in Position gesetzt werden, als ob sie noch am Leben wären - allein für sich, bisweilen aber auch inmitten ihrer noch lebenden Angehörigen. Auch in diesem Fall ist die Belesenheit des Autors bemerkenswert. Ein kleiner Irrtum allerdings ist ihm gerade in diesem Kontext dann doch unterlaufen: Eine zur Mnemotechnik analoge Technik des Vergessens - von Draaisma bloß als ein Gedankenspiel erwähnt - ist im Rahmen der frühneuzeitlichen Rhetorik tatsächlich entwickelt worden: Die Vergessenslehren der Renaissance enthalten sehr konkrete Vorschläge dazu, wie man die in der antiken Rhetorik thematisierte Zuordnung von Erinnerungsbildern zu konkreten Orten aufheben und damit wieder löschen kann. (Gerhard Benetka, DER STANDARD, 13.7.2013)