"Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch erlebe", war die erste Reaktion der 74-jährigen Hebe de Bonafini, der bekannten Wortführerin der Bewegung der "Mütter der Plaza de Mayo". Wie andere Opfergruppen auch, fordern die Mutter und Großmütter seit zwanzig Jahren, dass die für den Tod und das Verschwinden von rund 30.000 Menschen Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Es hat in Argentinien mehrere Versuche gegeben, die Angehörigen und Helfer der Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 in dem südamerikanischen Land herrschte, vor Gericht zu bringen. Zunächst werden die Anführer des Putsches im Jahr 1985 zu lebenslanger Haft verurteilt. 1986 aber erlässt die Regierung zwei Gesetze, die auf eine faktische Amnestie für alle weiteren Angeklagten hinausläuft. Unter Präsident Carlos Menem werden 1989 und 1990 sämtliche verurteilte Militärs wieder freigelassen.

Es bedurfte eines engagierten Richters wie des Spaniers Baltazar Garzón, der schon Chiles Exdiktator Augusto Pinochet hat festsetzen lassen, damit das Thema wieder auf die Agenda gesetzt wurde. Denn in Argentinien, wie in anderen lateinamerikanischen Ländern auch, wo eine Militärdiktatur herrschte, ist die Versuchung groß, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Aber Garzón blieb hartnäckig. Er überstellte 1999 ein Auslieferungsgesuch mit den Namen von 48 Mitgliedern der früheren Junta - zwei sind inzwischen gestorben. Argentiniens Regierung untersagte per Dekret die Auslieferung, auch an andere Länder. Dass der nunmehrige Präsident Nestor Kirchner nun diesen Erlass aufgehoben hat, war ein mutiger Schritt.

Denn mit den einstigen Junta-Mitgliedern Jorge Videla und Eduardo Massera soll auch ein gewählter Bürgermeister ausgeliefert werden: Antonio Bussi aus Tucuman.

Schon wenige Tage nach seinem Amtsantritt im Mai hatte Kirchner die Chefs der Streitkräfte und der Polizei abgelöst und im Kongress ein Verfahren gegen das diskreditierte Oberste Gericht beantragt. Der Linksperonist schuf damit in nur zwei Monaten den Nährboden für eine Abrechnung mit der Militärjunta.

Seine eigene Geschichte dürfte dabei eine wichtige Rolle gespielt haben: Kirchner war während der Militärdiktatur kurz inhaftiert. Sein Außenminister Rafael Bielsa, der den linksgerichteten "Montoneros" nahe stand, war drei Jahre in Gefangenschaft, wurde gefoltert und galt zwei Monate lang als "verschwunden". Dem Tod in einem Folterzentrum entkam Bielsa nur, weil die auf ihn gerichtete Pistole nicht funktionierte.

Mit seinem offensichtlich ernst gemeinten Bemühen, eine juristische Aufarbeitung der Vergangenheit zuzulassen, hat Kirchner Landsleute wie Beobachter gleichermaßen überrascht. Denn der ehemalige Gouverneur der Provinz Santa Cruz war vor seinem Wechsel in die Casa Rosada als farblos beschrieben worden. Inzwischen trägt Kirchner den Spitznamen "Hurrikan K", der offenbar auch den Staub der Vergangenheit aufwirbeln will.

Kirchner kündigte bereits an, noch einen Schritt weiter zu gehen. Er will auch den Erlass, der die Straffreiheit für die Ex-Junta vor argentinischen Gerichten vorsieht, aufheben. Damit könnten die Mitläufer und Angehörigen der Militärdiktatur, die zum Großteil bereits sehr betagt sind, früher vor Gericht gestellt werden. Das Auslieferungsverfahren wird vermutlich Jahre dauern. Es wäre ein gigantischer Gefangenentransport über den Atlantik, wenn die ehemaligen Mitglieder der argentinischen Militärdiktatur tatsächlich nach Spanien überstellt werden würden.

Allein, dass dem Auslieferungsantrag stattgegeben wurde, ist ein wichtiges Signal, das auch in anderen Ländern, wo Militärdiktaturen herrschten, ankommt. Egal, ob die Schergen von damals nun in Spanien vor Gericht gestellt werden, vor dem Internationalen Strafgerichtshof oder in Argentinien - Hauptsache, es wird ein Verfahren eröffnet. Damit den Opfern und ihren Angehörigen endlich Gerechtigkeit widerfährt. (DER STANDARD Printausgabe, 28.7.2003)