Zuerst schleppt Christa Gruss-Brunner das ganze Zeug zur Laufbahn des "Vienna Cricket and Football Club".
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Die Instrumente werden aus der Box geholt, ...

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... dann piekst Krista Gruss-Brunner schwitzenden Menschen ins Ohr, um ihnen ein paar Tage später zu sagen, wieso nichts weitergeht.

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Heraus kommt ein Stapel Kurven und Zahlen, die Gruss-Brunner und Michael Buchleitner analysieren und in einen Plan übersetzen.
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Drei, vier oder fünf Runden ...

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... das fixe Soll-Tempo steht auf einem Zettel in der Hand.
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Natürlich kann man auch aus Freizeitsport eine Wissenschaft machen. Und dann lamentieren, dass das nicht nötig sei. Weil Laufen einfach Spaß machen soll. Und zu viele Details, Tüfteleien und technischer Firlefanz aus der simplen, einfachen, (fast) jedem möglichen Bewegung eine - eben - Wissenschaft machen. Da es bei 97 Prozent aller Läufer doch - außer eben um den Spaß an der Freude - um genau gar nichts geht, ist das also unwichtig. Nebensächlich. Überflüssig. Was auch immer.

"Das stimmt", sagt Krista Gruss-Brunner, "man kann auch ohne das, was ich mache, ganz hervorragend laufen, trainieren, Spaß haben und sich tolle Erfolgserlebnisse verschaffen." Sagt es, nimmt ihren Campingklapptisch aus dem Auto, schnappt die Kühlbox und eine zweite Tasche, schleppt das ganze Zeug ("Nein, ich trag das lieber alles selbst, ich bin das so gewohnt") zur Laufbahn des Vienna Cricket and Football Club gleich gegenüber dem Happel-Stadion und baut ihre Gerätschaften auf. "Aber", sagt sie dann, "irgendwann kommen die meisten Leute an einen Punkt, wo sich nichts mehr tut. Wo nichts weitergeht. Dann kann ich helfen."

Pieks ins Ohr

Krista Gruss-Brunner ist Sportwissenschaftlerin. Nach dem Studium arbeitete sie sechs Jahre lang bei Österreichs "Antidopingpapst" Hans Holdhaus am IMSB (Institut für Medizin und sportwissenschaftliche Beratung), bevor sie sich mit ihrer Firma Aerob selbstständig machte. Die Ex-Mittelstreckenläuferin arbeitet seither unter anderem als Trainerin für Vereine und als Personalcoach für Hobbyläufer. Und sie piekst schwitzende Menschen ins Ohr - um ihnen ein paar Tage später zu sagen, wieso nichts weitergeht. Und, wichtiger, wie sie eben doch jenes Alzerl mehr Leistung aus sich herausholen können. Wenn sie das wollen. Kurz: Krista Gruss-Brunner macht Laktattests.

Schlicht und bewusst unwissenschaftlich formuliert tut sie also das, was die meisten Hobbyläufer irgendwann über Faustregeln wie "220 minus Alter minus x Prozent" oder selbst- beziehungsweise webgestrickte Methoden, die eigene maximale Herzfrequenz zu ermitteln ("Bis du halt nimmer kannst"), herauszufinden versuchen: jene Zonen, Schwellen und Grenzen zu definieren, an denen aus Aufbau und Ausdauer Effizienz und Schnelligkeit werden - und ab welchem Pulsbereich man dann "ausbrennt". Der Laktatgehalt des Blutes ist da ein sehr präziser Indikator. Aber nur, wenn auch Setting und Auswertung stimmen.

Die Zauberwörter heißen aerobe und anaerobe Schwelle. Sie sind Demarkationslinien: Unter der aeroben Schwelle verbrennt man - einfach und unwissenschaftlich gesagt - primär Fett und fördert die Grundlagenausdauer. Oberhalb der anaeroben Schwelle verbraucht man die eisernen Reserven des Körpers. Je später man diese Grenzen überschreitet - also (wieder extrem schlicht gesagt) je höher der Puls an diesen Übergängen ist - umso besser, schneller, länger ist man unterwegs. Mit gezieltem Training lässt sich da einiges verschieben.

Fixes Soll-Tempo auf einem Zettel

Der Test an sich ist für den Läufer simpel: Man läuft. Allerdings nach Plan: Gruss-Brunner piekst ins Ohr, nimmt einen Tropfen Blut ab und schickt auf die Bahn. Drei, vier oder fünf Runden - das fixe Soll-Tempo steht auf einem Zettel in der Hand. Dann werden Zeit und Puls notiert, Blut wird abgenommen, und es geht wieder auf die Bahn. Diesmal schneller. Dann noch schneller. Und noch schneller. Ein paar Tage später kommen die Ergebnisse: Zahlen und Kurven. Wenn man die lesen kann oder gut erklärt bekommt, "ist das ein guter Spiegel, wo man tatsächlich steht", so Gruss-Brunner. Das ist der Stoff, aus dem effiziente Trainingspläne gestrickt werden.

Was das konkret heißt? Bis ich vorigen Sommer meinen ersten Laktattest machte, hielt ich derlei für Mumpitz. Nicht generell, aber für Menschen, die auf meinem Level herumjoggten: eine, vielleicht zwei Stunden in Pulsbereichen, die ich irgendwann einmal zu den Zonen erklärt hatte, in denen ich mich erholte, an der Ausdauer feilte, Tempo und Reichweite zu steigern versuchte - oder mich voll auspowerte. Woher meine Werte kamen? Da hatte mal der Freund eines Bekannten, der einmal einen Triathlon gelaufen war und da einen Trainer gebucht hatte ... Oder waren es doch einfach die Werte, die auf der Pulsuhr voreingestellt gewesen waren? Oder hatte ich (vor wie vielen Jahren eigentlich?) einmal "220 minus Alter minus x Prozent" gespielt?

Egal: Ich lief einfach. Lang und kurz. Schnell und Langsam. Allein und mit Freunden. Ich hatte Spaß, der Rest war wurscht. Bis dann im Vorjahr die Einladung nach Palma kam. Zum TUI-Marathon. Zur Vorbereitung spendierte man den Lauf- und Reise-Journalisten nicht nur kontinuierliches, betreutes Laufen und Trainingspläne, sondern auch den Laktattest.

Blaues Wunder

Die Ergebnisse waren gar nicht so weit von meiner Selbsteinschätzung weg. Dachte ich. Anfangs. Dann erlebte ich mein blaues Wunder: Nach dem Unterschied von fünf oder zehn Herzschlägen pro Minute - also der Abweichung meiner Daumen-mal-Pi-berechneten Zonengrenzen - hätte ich nach ein paar Wochen ein Buch schreiben können. Oder: Lieder singen - und zwar während des Laufens. Ich spürte, dass ich schneller wurde. Ökonomischer lief. Lockerer atmete. Mir meine Kraft besser einteilen konnte. Und plötzlich Reserven hatte, wo ich mich zuvor am Limit gefühlt hatte.

Der zweite Test, ein paar Monate später, bestätigte das subjektive Gefühl: Ich hatte mich verbessert. Sicher: Mit meiner Kaffeesud-hoch-was-auch-immer-Methode und irgendeinem Marathon-Plan aus dem Netz hätte ich mein Ziel ( "Durchkommen") vermutlich auch erreicht. Aber als mir TUI-Coach Michael Buchleitner anhand der Ergebnisse des zweiten Tests mein voraussichtliches Wettkampftempo vorhersagte, war ich trotzdem baff. Erstens, weil es - vorher - meine kühnsten Erwartungen übertraf. Und zweitens - danach - stimmte.

Zweite Runde

Vor wenigen Tagen piekste mich Krista Gruss-Brunner wieder ins Ohr. Ich lief wieder mit einem Zettel im Kreis. Und bekam vor ein paar Tagen wieder einen Stapel Kurven und Zahlen, die mir Gruss-Brunner und Buchleitner analysierten und in einen Plan übersetzten. "Du bist bei den langen Läufen zu schnell", sagte Buchleitner. "Bin ich nicht, ich trainier eh schon ur langsam", trotzte ich. "Deine Blutwerte sagen etwas anderes. Und die kannst du nicht belügen", klopfte Gruss-Brunner auf irgendeine Kurve. Ich gab nach und zitierte Meister Yoda: "Willst schnell du sein, langsam üben du musst." Gruss-Brunner und Buchleitner grinsten.

Im echten Leben - also abseits der gepamperten, von Veranstaltern und Sponsoren gestützten Presse-Events - kostet der Laktattest bei Krista Gruss-Brunner übrigens 90 Euro. Die könnte man natürlich auch anders verbraten. Aber vermutlich sind die meisten Dinge, die Ihnen da jetzt ad hoc einfallen, genauso wenig lebensnotwendig wie ein Laktattest. Und machen Ihnen - hoffentlich - ebenso viel Spaß wie mir jene sinnbefreiten paar Minuten, die ich früher wieder dort ankomme, von wo ich rund dreieinhalb Stunden zuvor losgerannt bin. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 11.7.2013)