Alex ist der "Neue" in der Sesamstraße. Dass sein Vater im Gefängnis sitzt, macht ihn traurig. Wenn andere Kinder ihn danach fragen, weicht er aus und geht weg.

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Der Neue in der "Sesamstraße" trägt blaues Wuschelhaar, grüne Stupsnase und eine gehörige Last auf den schmalen Schultern. Mit gesenktem Haupt hockt er auf den Stufen und versinkt im Kummer. Was Alex so traurig macht, ist die Trennung von seinem Vater. Denn der sitzt im Gefängnis.

Alex vermisst ihn, er fühlt sich schuldig, schämt sich zugleich und weiß nicht so recht, wohin mit den widersprüchlichen Gefühlen. Die anderen Puppen der "Sesamstraße" machen Alex Mut - sie hören ihm zu, ermuntern ihn, seine Gefühle auszudrücken, und bieten ihm die Freundschaft an. In einer Folge intonieren sie gemeinsam ein Lied mit dem Refrain "You are not alone". Ein Rührstück mit Halszuschnür-Garantie.

Tatsächlich ist Alex einer von vielen - die Geschichte der Puppe greift die Lebensrealität vieler Mädchen und Buben in den USA auf: Jedes 28. Kind lebt hier von Vater oder Mutter getrennt, weil die im Gefängnis sitzen. Fast zwei Drittel der in den USA Inhaftierten haben Kinder - 2,7 Millionen davon sind minderjährig.

Weniger Kriminalität, mehr Inhaftierte

Das Schicksal von Alex bringt ein Thema ins breitenwirksame Kinderfernsehen, das schon lange vor dem Prism-Skandal am Image der USA als Zentralinstanz westlicher Freiheitsideale gekratzt hat: die Gefängnis-Epidemie, also der rasante Anstieg der Inhaftierungen in den vergangenen Jahrzehnten. Jeder hundertste erwachsene Amerikaner lebt heute in Haft - das sind mehr als zwei Millionen Menschen. 1980 noch war es eine halbe Million.

Damit sind die USA weltweit das Land mit den meisten Menschen hinter Gittern - gemessen an der Bevölkerungszahl. Und die Zahl der Gefängnisinsassen klettert weiter.

Die Folgen des "War on Drugs"

Dabei nimmt die Kriminalität in den USA seit Jahren ab - die Mordrate hat sich seit 1991 beinahe halbiert. Und das nicht etwa, weil Gewalttäter und Gewalttäterinnen weggesperrt werden: Die meisten Straffälligen in den USA sind wegen Eigentums- oder Drogendelikten in Haft - nur ein Drittel sitzt wegen Gewaltdelikten ein. Es ist der vor 40 Jahren in den USA ausgerufene "War on Drugs", der die wachsenden Inhaftierungszahlen erklärt.

Gespräche durch die Scheibe

Meist ist es der Vater, der einsitzt. Viele Kinder sehen ihn jahrelang nur durch eine Glasscheibe. Der typische US-Gefangene ist ein junger Schwarzer ohne Schulabschluss: Bei den 20- bis 34-jährigen in dieser Gruppe sind derzeit mehr inhaftiert als beschäftigt - konkret 37 gegenüber 26 Prozent. Insgesamt sitzt jeder zwölfte schwarze Mann im arbeitsfähigen Alter ein - bei den Weißen ist es nur jeder 87.

All das thematisiert die "Sesamstraße" freilich nicht. Die Serie lässt sich nicht auf eine moralische oder gar politische Diskussion zu Sinn oder Unsinn von Amerikas Inhaftierungspolitik ein - stattdessen rückt sie den grünnasigen Alex ins Bild, lässt Kinder von Inhaftierten zu Wort kommen und gibt den kindlichen Empfindungen viel Raum. In einer Folge heißt es schlicht, Alex' Vater habe eben "gegen das Gesetz, also die Erwachsenen-Regel" verstoßen und sei deshalb im Gefängnis. Mehr erklärt wird nicht.

Für Kinder traumatisch

"Wir müssen uns klarmachen, dass es für Kinder traumatisch ist, von ihren Eltern getrennt zu sein", sagt die US-Psychologin Ann Adalist-Estrin vom Nationalen Center zur Unterstützung von Kindern und Familien von Inhaftierten gegenüber dem ZDF. "Und wenn es wegen einer Haftstrafe ist, ist das nicht weniger traumatisch als wegen einer Scheidung oder eines Todesfalls. Der Unterschied ist, dass diesen Kindern nicht annähernd so viel Sympathie oder Mitgefühl entgegengebracht wird. Dem Gefängnis haftet ein Stigma an."

Die konservative Kritik an der "Sesamstraße" folgte prompt: In Blogs wird kritisiert, dass die Kinderserie Haft als etwas Unrechtes darstelle. Einen regelrechten Aufschrei gab es auf der Website des konservativen Fernsehsenders Fox News: "Lächerlich!", schimpfte da ein Leser. Ein anderer mokierte sich: "Das ist so politisch korrekt, dass es mich krank macht. Das war's für mich mit der Sesamstraße!" "Soziale Degenerierung nach Art der Muppets" ortete ein Dritter.

Etwas differenzierter geht es der liberale Kolumnist Mike Riggs vom Magazin "Reason" an. Er kommentierte: "Herzlichen Glückwunsch, USA, dass es mitterlweile normal ist, dass ein Elternteil im Gefängnis sitzt." (Lisa Mayr, derStandard.at, 9.7.2013)