"Gfraster sind ja feig." Erich Baron zeigt (an seinem Bruder), dass auch Rollstuhlfahrer sich sehr effektiv wehren können.

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Wien - Manche Dinge tut man nicht. Das wird einem - normalerweise - anerzogen: Man haut nicht hin. Und man freut sich auch nicht, wenn einem Menschen etwas wehtut. Aber trotzdem zieht sich da dieses Grinsen über das Gesicht von Francesca Cafaro. Zuerst nur ein Anflug - aber mit jedem Mal, wenn die junge Frau zuschlägt, wird es stärker. Bis es einmal richtig Klatsch macht: Cafaro hat das Ohr getroffen.

Die Frau im Rollstuhl wirkt erschrocken. Doch der Getroffene lobt (und reibt sich das Ohr): "Super! Volltreffer. So geht das! Und jetzt gleich noch einmal." - Klatsch! Jetzt lachen beide, Cafaro genauso wie Gerald Baron, der Angreifer.

Kampfsport trotz Rollstuhl

Währenddessen umkreist Barons Bruder Erich eine andere Rollstuhlfahrerin. Er nähert sich von hinten, greift der telefonierenden Frau über die Schulter. Zur Brust? Zum Handy? Zur im Schoß liegenden Handtasche? Egal: Er kommt nicht weit - und bekommt einen Schlag mit dem Handy. Fest auf den Handrücken, den zweiten Hacker ins Gesicht stoppt die Rollstuhlfahrerin aber doch noch knapp vor dem Treffer ab: "Autsch! Perfekt!", lobt Erich Baron - und rollt zum nächsten Angriff.

Erich Baron sitzt selbst im Rollstuhl - ein Motorradunfall vor zwei Jahren. "Nicht für immer", betont der 43-Jährige. Vor dem Unfall war er Karatetrainer. Und der Karosserietechniker weigerte sich, zu akzeptieren, dass Kampfsport nun Geschichte sein solle.

Nicht Opfer werden

"Kampfsport heißt, sich an Situationen anzupassen." Also adaptierte er mit seinem Bruder (ebenfalls Kampfsporttrainer) Schläge, Hebel und Co - und stieß "in dieser Welt, mit der man sich als Nichtbehinderter nie beschäftigt", auf ein Tabu: "Behinderte werden oft bestohlen. Oder begrapscht."

Statt ein Lamento über Infamie und Bösartigkeit der Welt anzustimmen, wurden die Brüder aktiv und zeigten bei der Hakoah Anfang Mai, was aus dem Rollstuhl heraus möglich ist - so man nicht vor Angst erstarrt.

"Es geht ums Selbstbewusstsein"

Die Vorführung der Barons, erinnert sich Ronald Gelbard - Geschäftsführer der Hakoah-Sportanlage und selbst lange Jahre Kampfsportler - machte Eindruck. Bei Behinderten wie Nichtbehinderten. Ein paar Wochen später baten die Brüder zum ersten Mal zu ihrem Selbstverteidigungskurs für Behinderte.

Trainiert wird jeden Freitag. Und dass noch nicht viele Rollstuhlfahrer kommen, sei "nicht so wichtig: Es ist ein Anfang." Geübt wird wie bei jedem Kampfsport: Langsam. Noch langsamer. "Bis eine Bewegung zum Reflex wird, braucht es 10.000 Wiederholungen", erklärt Gelbard. Die relevantere Wirkung setze aber früher ein und ist ident mit der von Selbstverteidigungskursen für Frauen: "Es geht ums Selbstbewusstsein: 'Mit mir nicht!', lautet die Botschaft." Erich Baron ergänzt: "Gfraster sind feig. Die spüren, wenn wer 'Ich bin kein Opfer, ich wehre mich' ausstrahlt."

Hau-Hemmung ablegen

Francesca Cafaro nickt: Bestohlen wurde die kaufmännische Angestellte noch nie. "Aber vorsätzlich berührt, wo ich es nicht will." Anerzogene Hau-Hemmung abzulegen sei da "nicht falsch".

Das Lachen der Rollstuhlfahrerin beim "Klatsch" hat aber noch einen Grund: "Nichtbehinderte wissen nicht, wie es ist, wenn man den eigenen Körper einmal nicht als Objekt der Therapie erlebt."  (Thomas Rottenberg, DER STANDARD, 8.7.2013)