Erst kommt die Moral: Nicht um rechts oder links geht es der neuen Protestbewegung in Bulgarien, sondern um "richtig oder falsch". Sie will den Rücktritt der Regierung Orescharski erzwingen.

Foto: Bernath/STANDARD

"Genug ist genug": Internet- aktivist Asen Genow trat die jüngste Protestwelle in Bulgarien los.

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Najo Titzin ist jetzt Wolen Siderow und spaziert hinter die Absperrung des Parlaments in Sofia, bekleidet mit einer weißen Zwangsjacke und einer Siderow-Papiermaske auf dem Gesicht. Der wilde Blick des Führers der rechtsextremen Partei Ataka trifft die Polizisten und die belustigten Demonstranten. Und weil man nicht einfach so hinter die Polizeigitter gehen kann, wird Titzin vorübergehend festgenommen. So war das auch geplant. "Siderow verhaftet" steht bei den Fotos, die gleich im Internet zirkulieren und den Mann in der Zwangsjacke zeigen, links und rechts ein Polizist.

Ein prächtiger Auftakt für den Tag 20 der Straßenproteste in Bulgariens Hauptstadt, findet Titzin, ein 42-jähriger Filmemacher. Seine zwei Teenagertöchter warten im Auto und sind schon genervt von den revolutionären Umtrieben ihres Vaters. "Es ist ihnen alles zu schrill, zu laut", sagt er. Trillerpfeifen, Hupen und Trommeln sind das Instrumentarium dieser Proteste ohne Chefs und ohne Redner, alles durcheinander oder leidlich im Rhythmus, von morgens bis abends.

Es geht gegen die unglückselige Regierung des neuen Premiers Plamen Orescharski, die sich von den Rechtsextremen aushalten lässt und Fehler um Fehler macht. Fünf Wochen im Amt, drei Wochen nonstop Demonstrationen.

"Die Leute dachten, die Sozialisten würden das Band zwischen der Mafia und der Politik zerschneiden. Stattdessen haben sie die Ikone der Mafia zum Chef von Dans gemacht. Das war zu viel", erklärt Najo Titzin. Dans ist Bulgariens Behörde für Staatssicherheit. Die Berufung eines kontroversen Parlamentsabgeordneten zum Direktor des Geheimdiensts ist der Sargnagel für die Regierung Orescharski - so sehen es die Demonstranten und mittlerweile auch die Mehrheit der politischen Beobachter in Sofia.

Es war ein Freitagmorgen Mitte Juni, Asen Genow war in der Arbeit, als er die Nachricht hörte. Der neue Regierungschef hatte ohne jede Ankündigung die Wahl von Deljan Peewski zum Chef von Dans auf die Tagesordnung setzen lassen. In 15 Minuten war die Sache erledigt.

Der mittlerweile 32-jährige, schwer übergewichtige Peewski sitzt seit zwölf Jahren im Parlament, spricht selten, war mit 25 schon einmal Vizeminister und kontrolliert zusammen mit seiner Mutter rund zwei Drittel der Medien im Land. Nun sollte Peewski, der "Golden Boy" der Oligarchen, den Geheimdienst leiten, für ihn speziell erweitert um die Abteilung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität aus dem Innenministerium.

"Ich konnte es nicht glauben", erzählt Asen Genow, "ich habe auf meine Facebookseite geschrieben: 'Genug ist genug. Ich gehe auf die Straße'." Bis zum frühen Abend hatten 40.000 Leser den Mitmach-Button auf Genows Seite angeklickt. Eine unerhörte Zahl für Bulgarien. Asen Genow startete die Protestwelle - die zweite in diesem Jahr. Im Februar stürzte schon die Rechtsregierung von Bojko Borissow. Dieses Mal geht es nicht um Strompreise, sondern um Moral, sagt Asenow: "Das ist ein politischer Protest."

Peewski kündigte nur einen Tag nach der Ernennung seinen Rücktritt an. Die öffentliche Empörung, geschürt von Expremier Borissow, konnte dies nicht mehr beruhigen. Was den Chef der Sozialisten, Sergej Stanischew, veranlasst hat, Peewski zuerst angeblich als Innenminister vorzuschlagen und dann als Chef der Staatssicherheit durchzusetzen, ist unklar. Spekuliert wird über Hintermänner und Peewskis Einfluss auf Wählerstimmen durch Geld und Medien. Tswetan Wassilew, ein mächtiger Banker, der Peewskis Mediengruppe unterstützt, hielt die Ernennung für einen Fehler. Er habe Peewski von diesem Schritt abgeraten, so sagt er.

Was nun kommen soll, ist unklar und im Grunde auch nicht wichtig. "Ich kann mich an keine normale Regierung in diesem Land erinnern", sagt Samuel Petkanow, ein 23-jähriger Student, der täglich seine populäre Satire-Website "Nenovinite" - die "Nicht-Nachrichten" - füllt. Neuwahlen im Herbst mögen Borissow wieder an die Macht bringen oder andere Rechtsextreme ins Parlament. Die Protestbewegung aber hofft langfristig auf eine neue Kraft: eine Koalition aus Grünen, Liberalen und dem Grüppchen der Konservativen um Expremier Iwan Kostow. "Wir brauchen keine Revolution", sagt Petkanow, "ein Sinneswandel reicht schon." (Markus Bernath, DER STANDARD, 6.7.2013)