Eine der sympathischsten Eigenschaften der Chinesen ist meiner Meinung nach, dass sie die Welt nicht so wie Europäer von vornherein in "Zutat" und "keine Zutat" einteilen - nein, hier wird alles als potenziell essbar und köstlich betrachtet. Der Fresshistoriker Ken Albala hält die chinesische Küche zusammen mit der italienischen und der mexikanischen für eine der drei großen bestimmenden Küchen der Welt. In einem Interview, das ich kürzlich mit Albert Adrià gemacht habe, hat dieser die chinesische Küche als seine liebste bezeichnet, und sein berühmter Bruder Ferran soll einmal gesagt haben: "Ohne Mao würden wir (die Köche dieser Welt) heute immer noch dem großen Drachen hinterherjagen." Soll heißen: Wenn der Diktator in seinem Hass auf die bourgeoise Esskultur nicht alles getan hätte, die chinesische Küche nachhaltig zu zerstören, dann wäre sie heute noch immer die beste und wichtigste überhaupt.

Ich selbst habe mich vor ein paar Jahren in sie verliebt, als ich mich auf Kosten der taiwanesischen Regierung eine Woche lang unter anderem über die Insel fressen durfte. Eine solche Vielzahl an spannenden Geschmäckern, Aromakombinationen und Konsistenzen war mir bis dahin unbekannt. Jetzt ist "die" chinesische Küche natürlich eine etwas irreführende Bezeichnung. Der Chinese selbst, der generell gerne durchzählt, unterscheidet klassisch acht große Küchen seines Landes, die wiederum gern vier groben Gruppen zugeteilt werden: die Küche des Westens, des Nordens, des Südens und des Ostens.

Hierzulande am bekanntesten ist wohl jene des Südens, deren wichtigster Vertreter die kantonesische Küche aus der Gegend um Hongkong ist. Im Norden gibt die Palastküche Pekings den Ton an, im Osten findet sich die meeresfrüchtereiche Küche aus Nanjing und Yangzhou, die viel Wert darauf legt, den Geschmack ihrer Zutaten nicht allzu sehr zu verfälschen; und im Westen ist die Küche aus Sichuan dominant, die vor allem ob ihres geschmacklich sehr eigenen Pfeffers Berühmtheit erlangt hat. Weil ich mich derzeit in der letztgenannten Gegend herumtreibe - in Yunnan und Sichuan, dessen Westen wiederum früher einmal Tibet war -, hier einige Fotos und ungeordnete Rechercheergebnisse von Märkten in Dali und Shangri-La.

Die Chinesen beschuldigen Marco Polo gern des Ideen-Diebstahls und insistieren darauf, dass sie es waren, die die Nudel erfunden haben.

Foto: Tobias Müller

Von Reis über Getreide und Tofu bis zu Kartoffeln ist alles als Nudel zu haben.

Foto: Tobias Müller

Einen ähnlichen Urheberrechtsstreit gibt es beim Prosciutto: der berühmteste Chinas kommt aus der Stadt Jinua im Osten des Landes, doch auch die Tibeter lassen ihre Schweinebeine trocknen. Die hiesige Rasse wird nicht sehr groß und braucht dafür sehr lange (etwa zwei Jahre), was ihr Fleisch besonders schmackhaft macht.

Foto: Tobias Müller

Die Beine werden drei Tage eingesalzen und anschließend ein bis zwei Jahre zum Trocknen gehängt, bevor sie verkauft werden. Ein halbes Kilo gibt es für etwa sechs Euro. Im Gegensatz zu den Italienern wird der Schinken hier eher nicht roh gegessen, sondern etwa mit Bambustrieben gebraten oder für Suppen verwendet.

Foto: Tobias Müller

Wild anzusehen, sehr gut zu essen: Für den Smelly Tofu wird der Tofu so lange kontrolliert verrottet, bis er einen anständigen weichen Pelz und kräftigen Geruch entwickelt hat. Anschließend wird er gern dampfgegart und mit Chili, Sichuanpfeffer, Sojasauce und Frühlingszwiebeln gewürzt aufgetischt. Der Geschmack kann umwerfend intensiv sein und erinnert, so wie das Ei, ein wenig an Blauschimmel, bloß mit kräftigeren Schimmelnoten.

Der Anfänger und empfindliche Esser mischt ihn mit genug Reis, um das Aroma ein wenig zu entschärfen. Ein Wort zum Sichuanpfeffer: Wer ihn nicht kennt und unbedarft auf ein Korn beißt, erlebt eine ziemliche Überraschung: Das Zeug ist nicht scharf, es schmeckt eher süßlich-sauer wie Zitronen, prickelt wie Brause und betäubt Zunge und Lippen. In zu großen Dosen kann das ausgesprochen unangenehm sein. Es ist allerdings leicht vorstellbar, dass Menschen, die das Gefühl bereits zum Frühstück gewohnt sind, anderes Essen leicht als langweilig empfinden.

Foto: Tobias Müller

Überhaupt sind die Bewohner Westchinas große Fermentierer. Kein Markt, kein Essen kommt ohne eine gewaltige Auswahl an Pickels aus - beliebt ist vor allem vergorener Kohl, aber auch Knoblauch, Rüben, Chilis, Pilze und Lotuswurzeln werden fermentiert. Genossen wird das Ergebnis entweder als Vorspeise, als Kontrast zum oft sehr fetten Fleisch oder als hervorragende Suppeneinlage.

Foto: Tobias Müller

Was, wenn man nicht genug Bohnen hat, um davon satt zu werden? Man mahlt sie zu Pulver, mischt das mit Wasser und kocht es auf - das Ergebnis ist ein bläulicher Bohnenkuchen, der ein wenig an Pudding erinnert und gern als Frühstück oder Snack genossen wird.

Er wird entweder gebraten oder kalt mit Chili, Sichuanpfeffer, Frühlingszwiebeln, Essig und Nüssen gewürzt und verspeist - erfrischend. Eine sättigende Portion gibt es für etwa 30 Cent.

Foto: Tobias Müller

Nicht alles, was wie Tofu aussieht, ist es auch. Für Blutkuchen wird das Blut frisch geschlachteten Geflügels oder von Schweinen aufgefangen, mit Salz verrührt, damit es nicht gerinnt, und schließlich einfach so lange ruhig stehen gelassen, bis es zu einer Art Pudding stockt.

Dieser wird gern als Suppeneinlage serviert. Guter Blutkuchen quietscht, wenn man ihn kaut, und schmeckt verführerisch ein wenig nach Eisen.

Foto: Tobias Müller

Sieht aus wie ein Marillenknödel, ist aber Chinas Antwort auf den Blauschimmelkäse: Enteneier, in eine Mischung aus Ton, Asche und Sägespänen gepackt und mindestens einen Monat verrotten gelassen. Wer so wie ich bisher tausendjährige Eier  (Pi Dan) nur in ihrer österreichischen Variante kennt, der wird durch den Geschmack hier doch überrascht: Nach dem Schälen werden sie idealerweise kurz gelüftet, damit der ärgste Schwefelgestank verfliegt. 

Foto: Tobias Müller

Danach wird der Esser mit den tollsten Blauschimmel-Aromen verwöhnt. Das Ei wird entweder bloß so genossen oder in Scheiben geschnitten und mit Essig, Sojasauce und Frühlingszwiebeln mariniert. Gewöhnungsbedürftig, dann aber ein wenig süchtig machend. Ein Ei ist für einen Betrag zu haben, der sich in Euro schwer ausdrücken lässt.

Foto: Tobias Müller

Der Tibeter beziehungsweise der Chinese des wilden, hohen Westens kennt traditionell eher wenig Gemüse außer Kartoffeln und Kohl.

Foto: Tobias Müller

Seit Erfindung des Verbrennungsmotors hat sich das etwas gebessert: So kommt man auch hier etwa in den Genuss von Bananenblüten (sehen toll aus, schmecken aber etwas fad), Sojabohnen, Melanzani und Bittermelone (wird ihrem Namen geschmacklich gerecht).

Foto: Tobias Müller

Sämtliche Zutaten der chinesischen Küche gelten als entweder "heiß" oder "kalt", ...

(Im Bild: Bananenblüten)

Foto: Tobias Müller

...Ziel des Essers und des Kochs ist es, die beiden in Balance zu halten. Die Bittermelone etwa ist ausgesprochen kalt und daher perfekt für einen heißen Sommertag geeignet - ganz im Gegensatz etwa zum Hund, der als eines der heißesten Lebensmittel gilt und daher eher im Winter gegessen werden sollte.

(Im Bild: Sojabohnen)

Foto: Tobias Müller

Der Durchschnittschinese mag keine Milch und behauptet mitunter, sie im Schweiß der Westler riechen zu können. Der Westchinese und der Tibeter hingegen sehen das ganz anders. Die Bewohner Yunnans sind nicht nur für ihren gebratenen Ziegenkäse bekannt (geschmacklich ähnlich aufregend wie gegrillter Halloumi), sie frittieren auch eine Art Joghurt.

Dafür  lassen sie zunächst Kuhmilch vergären, schneiden das Ergebnis vorsichtig in Streifen und trocknen diese anschließend einige Tage in der Sonne. Die zähe Masse wird dann in heißem Öl herausgebraten und, solange sie noch heiß und weich ist, zusammengerollt und schließlich kräftig gezuckert. Das Ergebnis ist ein erstaunlich kräftig-milchiger, knuspriger Snack, der sich auch gut als Nachspeise eignet.

Foto: Tobias Müller

Tibeter haben überhaupt ein ausgesprochenes Naheverhältnis zur Milch: Anstatt von Obst und Gemüse bekomme er seine meisten Vitamine aus dem Yakbutter-Tee, hat mir mein großartiger Guide hier erklärt. Aus der fetten Milch des Yaks machen Tibeter zuerst eine dunkelgelbe Butter sowie Joghurt und Käse.

Foto: Tobias Müller

Die Milch wird dafür erst drei Tage vergoren, bis sie erhitzt wird und die sich absetzenden Käsefetzen in Bastkörben gesammelt und abgetropft werden, bis sie sich zu kegelförmigen Käselaiben verdichten. Diese werden entweder frisch gegessen oder geräuchert und verschimmeln gelassen. Die äußere Schicht wird dann vor dem Verzehr abgeschabt. Wegen der langen Fermentierzeit sind sowohl der Käse als auch das Joghurt außergewöhnlich sauer.

Foto: Tobias Müller

Für den Tee werden Yakbutter, Yakmilch und sehr kräftiger Schwarztee gemischt und gesalzen. Für traditionelles tibetisches Frühstück wird der Tee mit Tsampa, gemahlenem und geröstetem Gerstenmehl, zu einem Brei geknetet und dieser zusammen mit Yakjoghurt verspeist - eine leicht bittere, salzig-saure Angelegenheit, die nicht durch Rafinesse besticht.

Das Mehl wird dafür in die Tasse mit dem Buttertee gekippt und mit dem Mittelfinger so lange eingerührt, bis sich ein knetbarer grauer Brei gebildet hat. Die Wahl des Fingers ist von Bedeutung: Der Daumen dient dazu, Zustimmung auszudrücken, der Zeigefinger, um nach dem Weg zu fragen, der Mittelfinger zum Frühstücken, mit dem Ringfinger werden Opfergaben angefasst und der kleine Finger ist das tibetische Äquivalent zu unserem Stinkefinger.

Foto: Tobias Müller

Der Chinese mag seinen Fisch gerne frisch. So frisch, dass er ihn meist lebend kauft und erst unmittelbar vor dem Verzehr schlachtet (Ähnliches trifft auch auf das Huhn zu).

Foto: Tobias Müller

Mitunter zeigt sich dabei eine andere Einstellung zum Tier, etwa wenn der Koch den gerade bestellten Fisch schuppt, ohne ihn vorher getötet oder ihm wenigstens kräftig auf den Kopf gehauen zu haben.

Foto: Tobias Müller

Auch der Aal wird unbetäubt ans Brett genagelt, bevor es an seine Eingeweide geht.

Foto: Tobias Müller

Fuchsie Dunlop meint dazu in ihrem sehr lesenswerten Buch über Chinas Kochkultur, dass das chinesische Wort für Tier übersetzt etwa "Ding, das sich bewegt" bedeutet  - im Gegensatz etwa zum englischen beseelten "animal".

Foto: Tobias Müller

Auf jedem Markt zu finden: Räucherente.

Foto: Tobias Müller

Die Ente wird gerupft, per Gasbrenner ihrer Kleinstfedern entledigt und dann in ein mannshohes Metall-Ei zum Räuchern gehängt. Kohlen in der Mitte sorgen für die Hitze, durch einen Hahn wird unten das Entenfett ausgelassen.

Foto: Tobias Müller

Das Endprodukt wird komplett in Stücke gehackt und hier etwa als Suppeneinlage oder mit Chili, Sojasauce und Nüssen serviert. Während die klassische Peking-Ente berühmt dafür ist, außergewöhnlich fett zu sein, ist ihr Vetter im Westen eine eher magere Angelegenheit. Eine ganze Ente kostet etwa zwei Euro.

Foto: Tobias Müller

Das Lieblingstier des Chinesen ist das Schwein, das hier wortwörtlich von Kopf bis Fuß verzehrt wird.

Foto: Tobias Müller

Die Lunge wird im Norden Yunnans nach dem Schlachten aufgeblasen und mit einem scharf gewürzten Getreidebrei gefüllt. Anschließend wird sie stundenlang in Chilisauce weich gekocht, in Scheiben geschnitten und dann entweder gebraten oder zwecks Konservierung zur Seite gelegt. Gut behandelt bleibt sie bis zu einen Monat haltbar.

Foto: Tobias Müller

Die Leber (angeblich gut bei Leberproblemen!) wird entweder sofort gegessen oder luftgetrocknet. Wenn einen dann an einem kalten Wintertag die Lust darauf überkommt, packt man sie in eine scharfe Suppe und kocht sie drei Stunden, bis sie wieder weich ist. Der Darm wird mit eingelegtem Gemüse abgebraten, die Schnauze, die Schwänze und die Ohren mit Gewürzen in Fett weich konfiert, die Haut landet, ähnlich wie in Mexiko, knusprig gebraten in der Suppe oder wird als Chip gesnackt.

Foto: Tobias Müller

Rinder sind eher die Ausnahme - außer in Tibet, wo der Yak das Leben bestimmt. Das haarige Tier ist meiner Meinung nach geschmacklich kaum von seiner hiesigen Verwandten, der Kuh, unterscheidbar - allerdings ist es deutlich fetter und sein Fleisch außergewöhnlich dunkelrot.

Foto: Tobias Müller

Die Tibeter sind Yak-Komplettverwerter: Seine Knochen werden über dem Fleischhauer-Stand für Suppenköche aufgehängt, ...

Foto: Tobias Müller

... sein eher zähes Vorder- und Hinterbeinfleisch sechs Monate luftgetrocknet, bis es wie Beef Jerky gegessen werden kann.

Foto: Tobias Müller

Der weiche Schwanz dient als Besen - und als Beweis des Fleischers, dass er tatsächlich Yak und nicht bloß Kuh verkauft hat. (Tobias Müller, derStandard.at, 7.7.2013)

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