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Wer noch nicht ganz verstanden hat, wie es zur finanziellen Kernschmelze kam, könnte mit diesem Buch gut aussteigen.

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John Lanchester
Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt
Die bizarre Geschichte der Finanzen
Klett-Cotta-Verlag 2013
302 Seiten, 20,50 Euro

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John Lanchester ist eigentlich Romanautor. In seinem weltweit auf heftige Resonanz gestoßenen Buch "Kapital" erzählte er vom boomenden London der Zocker und Blender. Minutiös hat der Literat und Journalist dafür in der Londoner Bankenwelt recherchiert. Der Stoff, den er dort vorfand, ließ sich ganz offensichtlich nicht zwischen zwei Buchdeckeln pressen. Deswegen legte Lanchester vor einiger Zeit mit  "Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt" ein Sachbuch nach. Die komplizierte Welt der Finanzwirtschaft, ihre Verflechtung mit und Auswirkungen auf die Realwirtschaft zu erklären, hat Lancaster mit dem Werk bravourös gemeistert.

Die Geschichte der Krise erzählt Lanchester vereinfacht gesagt so: Es waren einmal mit Ost und West zwei Systeme im Schönheitswettbewerb. Einer beäugte den anderen scharf und misstrauisch. Das war in gewisser Hinsicht ziemlich gut, denn "die Bevölkerung des Westens hat ihren ganz eigenen Nutzen aus der Existenz, der Politik und aus dem Beispiel des kommunistischen Blocks gezogen." Der Wettbewerb habe zur Folge gehabt, dass beide Systeme versuchten, sich gegenseitig dabei auszustechen, wer wohl seinen Bürgern eine bessere, fairere Lebensweise bieten könne.

Die Profiteure eines Wettbewerbs

Das Resultat im Osten war Unterdrückung; im Westen freuten sich die Bürger und Bürgerinnen über kostenlose Schulausbildung, eine allen zugängliche Gesundheitsversorgung, über wochenlangen bezahlten Urlaub und eine schöne Fortentwicklung in allen Bereichen, die mit Chancengleichheit und den Rechten des Einzelnen zu tun hatten.

In Westeuropa führte die Existenz nationaler Parteien mit einer starken und ausdrücklichen Bewunderung für das sozialistische Modell zu dem großen Bedürfnis, allen zu beweisen, dass unter der Herrschaft kapitalistischer Demokratien das Leben für die Menschen besser war. In Amerika war dieser Druck wesentlich geringer. Dementsprechend haben die amerikanischen Arbeitnehmer in den Augen der Europäer geradezu grotesk wenig Urlaub, keine kostenlose Gesundheitsversorgung.

Als die Guten gewannen

Doch dann gewannen die Guten. Das Modell Osten hatte sich überholt. Der Schönheitswettbewerb war zu Ende und damit auch der jahrzehntelange Fortschritt, den die westliche Welt auf dem Gebiet der Chancengleichheit und der Persönlichkeitsrechte zu verzeichnen hatte. In den USA blieb das Arbeitnehmergehalt im mittleren Einkommensbereich unverändert. Der Graben zwischen niedrigen und hohen Einkommen hatte sich drastisch vertieft.

Eine neue Ära brach an. Vieles, um nicht zu sagen alles, wurde anders. Wer John Lanchester folgen will, sieht hier den Anfang der Krise.  Nach dem Fall der Berliner Mauer – so sieht es der in Deutschland Geborene und in Hongkong als Sohn eines Bankbeamten aufgewachsene  Brite – entstand ein Klima wie in Honkong. An  Hongkong erinnert er sich so: "Es herrschte eine Form der Marktwirtschaft, wie sie freier und ungezügelter nirgendwo sonst auf der Welt existierte, quasi der wirtschaftliche Wilde Westen."

Reichtum und die Kehrseite

Es gab keine Regeln, quasi keine Steuern, keinen Wohlfahrtsstaat, keine Garantie für medizinische Betreuung oder Schulausbildung. Ausbeuterbetriebe, die von niemand kontrolliert wurden, spielten beim wirtschaftlichen Erfolg eine wichtige Rolle.

Großbritannien, schreibt Lanchester, wirkte im Vergleich dazu langsam, vorsichtig, geregelt, ängstlich.  Doch auch das änderte sich. Die Regeln, die ursprünglich für Hongkong gegolten hatten, schienen plötzlich die übrige Welt zu erobern. Doch wie kam es, dass das funktionierte? Ganz einfach: Die Länder, die sich den dazugehörigen Regeln verschrieben, hatte ein stärkeres Wirtschaftswachstum vorzuweisen. Das BIP lieferte schlagende Beweise für die Richtigkeit dieser Entscheidung. Er habe Hongkong verlassen, schreibt Lanchester, konnte auch nicht mehr zurückkehren. "Das war gar nicht so schlimm, denn meine Heimat kam gewissermaßen zu mir."

Fruchtbares Klima

Die Ereignisse, die dazu führten, dass der Finanzsektor außer Kontrolle geriet, vollzogen sich nicht in einem Vakuum, sondern in einem dafür fruchtbaren Klima, blickt der Autor zurück: "Es entstand eine ideologische Hegemonie, wie es sie bis dahin noch nie gegeben hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte war die Dominanz des Kapitalismus als politisch-ökonomisches System vollkommen ungefährdet. Es gab keinen globalen Gegenspieler mehr, der mit dem Finger auf das System hätte zeigen  und sich höhnisch darüber hätte echauffieren können, wie zahlreich und hemmungslos die überbezahlten Manager und Bonzen geworden waren." Es war niemandem mehr peinlich – so Lanchester - dass die Reichen ganz ungehindert immer schneller immer reicher wurden. Der Finanzsektor war in der Hand des Kapitalismus. Was folgte ist mittlerweile bekannt. Die Banken gingen immer größere Risiken ein, die Finanzindustrie florierte, erfand neue Produkte, wurde dereguliert und deregulierter.

Eine Branche im Rausch

Die Finanzbranche übertraf und belohnte sich selbst, erfand neue Formeln, um Risiko in Zahlen zu fassen oder auch klein zu rechnen, und neue Produkte um das Risiko – so dachte man zumindest – gleich ganz auszuschalten und die Aufsichtsbehörden schauten nicht so genau hin. Das Regelwerk dies- und jenseits des Globus wurde  den neuen Gegebenheiten angepasst. Die Branche florierte und brummte und die Anleger - groß und klein - spielten fleißig mit. Stein für Stein trägt der Autor zusammen. Kein relevantes Gesetz bleibt unerwähnt, keine Zauberformel unaufgelistet. Wie es sich für einen Literaten gehört, der über die Finanzkrise schreibt, treten mächtige Kronzeugen auf: Wissenschaftler wie der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Simon Johnson, zeichnen den Irrweg der Welt unter die Dominanz der Finanzmärkte nach. Große Strippenzieher wie Ex-Fed-Chef Alan Greenspan müssen kleinlaut zugeben, dass sie sich geirrt haben.

Böse hat es kaum jemand gemeint. Zuweilen ganz im Gegenteil: Eine der Ursachen der Finanzkrise war bekanntlich der politische Wille in den USA, Menschen mit wenig Einkommen ein eigenes Haus zu ermöglichen - durch Kredite, die sie kaum zurückzahlen konnten. Auch, dass früher alles besser war, behauptet der Autor keineswegs. Wer wollte außerdem einen florierenden Sektor bremsen? Lanchester beschreibt, wie die Finanzbranche die Oberhand gewann, weil die Politiker woanders hinschauten - auf den Terrorismus etwa. Und wer wollte schon den Glauben an den Markt in Frage stellen? Einmal mehr thematisiert der Autor, was mittlerweile zumindest von verhaltenswissenschaftlich interessierten Ökonomen konzediert wird: Der Glaube, Menschen handeln rational und schätzen Risiko richtig ein, sei falsch.

Und jetzt?

Um die finanzielle Kernschmelze zu verhindern, kam diese Erkenntnis zu spät. Und jetzt? Auf einen riesigen nicht-regulierten Boom, dessen Erträge fast ausschließlich in private Taschen flossen, folgte ein gigantischer Zusammenbruch. Dessen Verluste trägt bekanntlich die Gesellschaft. Island ist dafür ein anschauliches Beispiel: So richtig gezockt hätten dort 30 bis 40 Leute - auch wenn sich wohl alle am emsigen Spiel "Was kostet die Welt" beteiligten. Durch die Implosion der isländischen Banken muss jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Island einen Verlust von 150.000 Euro verdauen. Und nicht nur die Krisenländer Europas erleben traumatische Zeiten. Das kann sich niemand gewünscht haben, konstatiert Lanchester. Vermutlich hat er Recht. Bleibt die vage Hoffnung, dass Menschen doch lernfähig sind. (rb, derStandard.at, 3.7.2013)