Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Diese berühmte Frage lässt sich relativ leicht beantworten, wenn sie in Zusammenhang mit EU-Intregration und Zusammenarbeit der Staaten in der Europäischen Union gestellt wird: weder noch. Das Glas ist bestenfalls zu einem Drittel gefüllt.

Europa ist weit weg von einer wirklichen Vereinigung, auch wenn der Beitritt Kroatiens nächste Woche und der Startschuss zu EU-Beitrittsverhandlungen mit Serbien natürlich ein schönes Signal der Hoffnung sind. So lange ist es noch nicht her, dass auf dem Balkan gekämpft und gemordet wurde, dass vier Kriege zu Ende gingen. Das darf man nicht vergessen, gerade weil der Jubel über die Aufnahme des 28. Mitglieds der Union eher verhalten ausfällt.

Dennoch: Beim jüngsten Treffen haben die Staats- und Regierungschefs mit viel budgettechnischer und verbaler Akrobatik wieder einmal vorgeführt, woran es krankt und was sie am besten können: Probleme aufschieben, Lösungen und neue Verträge in die Zukunft verbannen.

Auch im vierten Jahr der Wirtschafts- und Finanzkrise sind sie nicht fähig, sich zu klaren Entscheidungen durchzuringen, wie es mit dem Euro, wie es in der Währungsunion weitergehen soll. Sie schaffen es nicht einmal, sich auf die wichtigsten Zielsetzungen zu einigen, die der Gemeinschaft neuen wirtschaftlichen Schwung verleihen könnten. So taumelt das schuldengeplagte Europa dahin. Zu viele Länder kämpfen mit der Rezession, ganz besonders jene in der Eurozone, die viel Potenzial hätte.

Regierungen sind Verschiebungsweltmeister

Gewiss, nicht alles geht daneben. Es ist ein Novum und erfreulich, wenn es nun eine vorgezogene, sogar starke EU-Initiative für mehr Chancen für die furchterregend vielen jungen Menschen ohne Arbeit gibt - und das mit gemeinschaftlichen Geldern. Das kann als eine Art Einstieg in eine europäische Sozialpolitik gesehen werden, wenn die Staaten es nun auch intelligent umsetzen.

Man sollte dazu auch deutlich sagen: Es handelt sich nicht nur um einen Gnadenakt, sondern um echte soziale Transferzahlungen. Alle zahlen mit, aber die reicheren beschäftigungsintensiven Staaten wie Deutschland oder Österreich werden davon direkt (fast) nichts haben. Profitieren werden die Problemzonen und -regionen, nicht nur die üblichen Verdächtigen im Süden Europas; auch im ach so EU-skeptischen Großbritannien wird man EU-Mittel für Notgebiete in Liverpool oder sonst wo gerne annehmen.

Und das ist auch gut so. Genau dafür ist die Europäische Union da. Sie ist eine Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, von Grund auf. Das lässt sich in einer Währungsunion (der vertragsgemäß nur Großbritannien und Dänemark nicht beitreten müssen) nicht trennen. Das Problem ist, dass die Regierungen das ihren Völkern nicht offensiver erklären.

Sie sind Verschiebungsweltmeister: Die Pläne zur Stärkung der Eurozone wurden auf Jahresende vertagt. Bei Bankenaufsicht und -abwicklung gibt es Fortschritte, aber sie wird eher 2015 als 2013 in Kraft treten. Über die Notwendigkeit einer EU-Vertragsreform wird nobel geschwiegen. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 29.6.2013)