Es braucht ein paar Sekunden, bis sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat. Eben noch wurde man von der toskanischen Mittagssonne geblendet, schon steht man mitten in den heiligen Hallen der Bottega Cantina Antinori, in denen so wohlklingende Weine wie Tignanello, Pèppoli oder Badia a Passignano in den Eichenfässern lagern und langsam zu edlen Tropfen heranreifen. Das Licht ist schummrig, die Luft ein wenig modrig, und über allem liegt eine Art Demut gegenüber dem, was in ein paar Monaten, Jahren auf irgendeinem Flaschenetikett als Chianti Classico abzulesen sein wird.
"Sind diese Räume nicht wunderbar? Die Ziegelgewölbe scheinen dem Wein eine spirituelle, ja fast religiöse Aura zu verleihen", sagt Renzo Cotarella. Der 59-Jährige ist Chefönologe für die Familie Antinori, die bereits seit 1385 im Weingeschäft tätig ist und heute zwölf Weingüter in ganz Italien betreibt. "Wissen Sie, wir sind hier im Herzen der Toskana, im sogenannten Chianti Classico. Doch bisher hatte das Weingut Antinori kein Zuhause, denn überall wurde Wein angebaut, und überall wurde produziert. Jetzt gibt es in Bargino, erstmals in der 600-jährigen Geschichte des Familienunternehmens, so etwas wie eine heilige Mitte."
Schwindelerregende Wendeltreppe
Von der Straße aus ist das neue Headquarter kaum zu sehen. Man muss schon wissen, wo der Wein wohnt, um ihn auch wirklich zu finden. Zwei horizontale Schnitte, als hätte man den Berghang auf einer Länge von 200 Metern mit dem Messer quer durchgeschnitten, machen sich in der Landschaft bemerkbar. Der architektonische Eingriff beschränkt sich auf ein Flugdach mit ein paar Emmentalerlöchern und eine schwindelerregende Wendeltreppe, die sich wie ein Korkenzieher von der unteririschen Gebäudezufahrt bis in die Weinreben hochschraubt. Hier ein bissl Glas, dort ein bissl vorgerosteter Stahl, der das rötliche Braun der toskanischen Erde nachahmt. Das war's.
"Die Cantina Antinori ist keiner von diesen zeitgenössischen Weinpalästen, die schreiend in der Landschaft stehen", sagt Cotarella, hebt den Zeigefinger, schüttelt den Kopf. "Diese Bottega ist eine unsichtbare Kathedrale, ein unterirdischer Weintempel, der die nächsten paar hundert Jahre Bestand haben soll." Rein technisch ist das durchaus möglich, denn die bis zu zehn Meter hohen Ziegelgewölbe müssen weder gekühlt noch geheizt werden. Die Raumtemperatur liegt das ganze Jahr über konstant zwischen 13 und 15 Grad Celsius. Nicht zuletzt dienen die 130.000 gebrannten Tonsteine, die das Gewölbe stützen, als Feuchtigkeitsspeicher. Ideale Bedingungen für die Rotweinlagerung also.
Bausumme: 110 Millionen Euro
Zu verdanken ist das Konzept dem Florentiner Architekturbüro Archea. "Ein Weingut ist ein Hybrid aus Fabrikhalle, Sakralbau und landschaftlichem Etwas", erklärt Chefarchitekt Marco Casamonti. "Die richtige Balance zu finden ist nicht leicht. Aber wenn man der Logik und den jahrhundertealten Traditionen vertraut, dann plant sich so ein Gebäude fast wie von selbst." 400.000 Kubikmeter Erde mussten für den Bau ausgehoben werden. Sieben Jahre lang glich die Baustelle einem Bombenkrater von - wie der Architekt meint - unvorstellbaren Ausmaßen. Nun, wenige Monate nach Fertigstellung, wird der Hang allmählich wieder von den Reben zurückerobert. Die Tatsache, dass sich unter der Erde 1,2 Kilometer Straße mit hundert Parkplätzen und etlichen Wendekreisen für Lkws und Sattelschlepper verbergen, macht selbst nach ein paar Achterln noch stutzig. Die Bausumme von 110 Millionen Euro ebenso. "Dieses Projekt ist eine Hommage an Mutter Natur", sagt Casamonti. "Denn eigentlich ist alles wieder so, wie es immer schon war."
Nicht nur in der Landschaftsgestaltung und Weinproduktion wird Tradition großgeschrieben. Auch in Sachen Kulinarik besinnt man sich bei Antinori auf alte Werte ohne Gags und Experimente. Auf der Speisekarte des hauseigenen Restaurants Rinuccio 1180 stehen so klassische Gerichte wie Pappa al pomodoro, ein lauwarmes Süppchen aus Tomaten und Weißbrot, das nicht nur geschmacklich, sondern auch konsistenzmäßig glücklich macht, Baccalà mantecato, eine Art Stockfrischcreme mit Olivenöl, oder etwa stundenlang geschmorte Rindskutteln mit weißen Bohnen. Wie überall in der Toskana sind die Gerichte einfach zubereitet und werden ziemlich archaisch auf den Teller geschmissen. Ganz ohne Cocktailtomate und Alibipetersilblatt.
Kein Grund zur Eile
"Alles, nur kein Schnickschnack", sagt Allegra Antinori, Vizepräsidentin des riesigen Familienimperiums, das jährlich zwischen 18 und 22 Millionen Flaschen produziert. Allein zwei Millionen Bouteillen kommen aus Bargino. "Unser Name steht für einfache und unverfälschte Qualität, und zwar nicht nur bei den Weinen, sondern auch beim Essen." Neben dem Rinuccio 1180 betreibt Antinori auch die beiden Restaurantschienen Procacci und Cantinetta Antinori mit Niederlassungen in Florenz, Zürich, Moskau und Wien sowie das Hotel Fonte de' Medici, das malerisch zwischen Weinreben und Zypressen eingebettet ist, nur wenige Kilometer von Bargino entfernt. Die Pläne gehen weiter: Demnächst soll der Palazzo Antinori, errichtet 1466 in der Innenstadt von Florenz, in ein Hotel- und Apartmenthaus umgebaut werden. Urtümlich und bodenständig soll es werden. So wie alles in der Familie. "Immer mit der Ruhe", sagt Allegra Antinori. "Es besteht kein Grund zur Eile. Weder beim Wein, noch beim Bauen. Wir sprechen hier von vielen, vielen Jahren."
Eine japanische Reisegruppe ist angekommen. Während die einen bereits im Weinshop stehen und holzkistenweise Chianti-Flaschen auf den Kassentresen stemmen, möchten die anderen noch ein bisschen gustieren, wagen sich zögerlich in einen der beiden Degustationsräume vor, die wie gläserne Schubladen ins Kellergewölbe ragen, treten an die Scheibe vor und fallen in ein kollektives, lautmalerisch begleitetes Staunen. In düsteres Licht getaucht, schlummern da unten 2000 Barrique-Fässer mit allem, was der Chianti Classico zu bieten hat.
"Das ist ein starker, ein mystischer, ein vom Tageslicht verborgener Ort, nicht wahr?" Renzo Cotarella hält kurz inne. Der Profi-Önologe beherrscht die pathetische Sprache so gut wie jeder andere, der an diesem Projekt mitgewirkt hat. "Doch genau darum geht's. Mehr als 600 Jahre lang haben wir der Erde Wein entnommen. Nun können wir ihr endlich auch etwas zurückgeben." (Wojciech Czaja, Rondo, DER STANDARD, 28.6.2013)