Der tief deprimierende Bericht der Kommission über die Zustände im Kinderheim Wilhelminenberg in den Jahrzehnten zwischen Kriegsende und den 70er-/80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigt zunächst eines: Man braucht keine autoritäre, reaktionäre, sexuell verkorkste, " pfäffische" Atmosphäre, um den (sexuellen und sonstigen) Missbrauch von wehrlosen Kindern als Massenphänomen zu ermöglichen.

In der "fortschrittlichen", sozialreformerischen, "menschenbildnerischen" Atmosphäre des Roten Wien ist das genauso möglich, wenn nicht ärger.

Das ist keine Invektive gegen die sozialdemokratische Stadtverwaltung und ihre großartigen Leistungen seit den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Es soll nur zeigen, dass die Kasernierung von Kindern in allen "geschlossenen Anstalten", sei es nun das katholische Konvikt, die liberale Reformschule oder eben das sozialistische Heim für " verwahrloste", "schwererziehbare" Kinder, zum Missbrauch geradezu einlädt.

Das Abgeschottetsein, der enge ununterbrochene Kontakt, das Fehlen von Kontakten, die als Korrektur dafür dienen könnten, wenn man das Bedenkliche immer mehr als "normal" empfindet; die Verfügungsgewalt, die von Autoritäten ausgeht, dazu der Terror, den die gequälten Kinder als " Entlastung" für den Druck von oben untereinander ausüben - all das sind Begleitumstände des Missbrauchs in solchen Gegebenheiten. Die Frage ist ja: Wie ist es heute? Die Heime wurden aufgelöst, die Kinder sind größtenteils in sogenannten Betreuungswohnungen, also viel kleineren Einheiten, untergebracht. Ist es da jetzt besser? Manche Experten kritisieren, dass die Kinder zwar "untergebracht" werden, es aber kein Konzept gibt, um mit den Eltern eine Verbesserung der Ausgangssituation zu erarbeiten. Denn Kinder wollen zu Hause sein.

Ein weites Feld, auf das hier mangels Fachkompetenz nicht eingegangen werden kann. Auf einer anderen, der gesellschaftspolitischen, polit- strukturellen Ebene bleiben genug Fragen: Warum werden diese himmelschreienden Zustände jahrzehntelang erfolgreich vertuscht, gleich ob in der Klosterschule oder im städtischen Heim? Die Kirche hat Missbrauchs-Priester immer wieder versetzt, aber nicht angezeigt oder hinausgeworfen. Die zuständigen Stadträtinnen in den 60er- und 70er- Jahren mussten etwas wissen, aber sie taten (fast) nichts. Der sogenannte Helige-Bericht zum Heim Wilhelminenberg spricht es ziemlich deutlich aus: Die Beamten, die zweite und dritte Ebene, hatten - gewerkschaftlich geschützt - die wahre Macht, nicht die politische Führung. Die würgten Kritik ab, streuten der jeweiligen Ressortchefin Sand in die Augen und sorgten dafür, dass die Kinderhölle noch lange, lange in Betrieb gehalten werden konnte. Natürlich war da der Zeitgeist: Autoritäres Denken, NS-Rückstände waren noch virulent. Aber dass sich die Gewerkschaft der Wiener Gemeindebediensteten vor die "Erzieher"- Sadisten stellte, das war schon systemimmanent.

Was ist heute? Vertuschung und Schutz für Unwürdige - funktionieren die immer noch? Schauen wir genau genug hin? (DER STANDARD, 26.6.2013)