Salzburg - In bisher elf Büchern hat sich Evelyn Grill bevorzugt mit den dunklen und bizarren Seiten menschlicher Existenz beschäftigt. Die stellt die gebürtige Oberösterreicherin meist anhand von Familiengeschichten dar, in denen Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit längst von Niederträchtigem, Gehässigem, Furchtbarem und Bedrückendem überschattet werden. Wozu also in die weite Welt schweifen, wenn Aggression, Kälte und Grauen doch so nah liegen? Etwa in Grills jüngstem Roman Der Sohn des Knochenzählers (Residenz-Verlag 2013): Oberhalb von Hallstatt, dem idyllischen Ort im Salzkammergut zwischen Felsmassiv und gleichnamigem See, lebt ein Archäologe, auch "Knochenzähler" genannt, mit seinem 21-jährigen Sohn Titus.
Monate zuvor ist die Mutter und Ehefrau Benita unter mysteriösen Umständen verschwunden. Einst hatte der Wissenschafter die Frau mit rätselhaftem Vorleben in Meran kennengelernt, sie geheiratet und in die österreichische Provinz mitgenommen. Dort blieb die rassige italienische Schönheit immer ein Fremdkörper - nun heizt ihr "Abtauchen" die Gerüchteküche an: Liegt sie auf dem Grund des dunklen Gewässers? Hat sie mit einem Liebhaber das Weite gesucht? Oder wurde sie gar ermordet? Weil Titus sich einst bei einer Sonnwendfeier schwere Verbrennungen im Gesicht zugezogen hatte, ist auch er ein Außenseiter. Am Ende des Buchs lüftet Evelyn Grill einige Geheimnisse hinter der Hochzeit. Benita war schwanger, sie brauchte einen Trauschein, aber die Beziehung stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Die Liebe der Frau galt ausschließlich Titus, dem Ehemann verweigerte sie jede Intimität. Auch nach ihrem Verschwinden herrscht zwischen Vater und Sohn Eiszeit: Schweigen als Folge von psychischer Not und Gefühlskälte. Natürlich spielt eine derart düstere Geschichte im winterlichen Hallstatt, wo der Bergschatten monatelang die Sonnenstrahlen fernhält. Ob und welches Licht den Zuhörern aufgeht, wird die Lesung der seit 1986 in Freiburg im Breisgau lebenden Autorin zeigen. (Gerhard Dorfi, DER STANDARD, 26.6.2013)