Eugen Drewermann: "Es ist nicht die Frage, was ein alter Mann in Rom im Amt eines Papstes denkt oder beschließt."

Foto: Standard/Hendrich

Kirchenkritiker Eugen Drewermann erklärt, warum das Umdenken von den Gläubigen ausgehen muss, warum Europa in den Atheismus abdriftet und dessen Ausprägung heute aggressiver ist. Mit ihm sprachen Peter Mayr und Markus Rohrhofer. 

STANDARD: Ihr Buch "Kleriker-Psychogramm eines Ideals" hat in den 1990er-Jahren viele Debatten ausgelöst. Hat sich Ihrer Ansicht nach seither an der Rolle des Priesters in der katholischen Kirche etwas geändert?

Drewermann: Nicht aus meiner Sicht. Der Katholizismus besteht wesentlich darin, dass er an die Stelle des Personalen das Beamtete gesetzt hat: Ein Priester kann kraft der Amtsgnade Sünden vergeben, er hat kraft des Amtes wie Petrus den Schlüssel zum Himmelreich. Das alles sind ungeheure Anmaßungen, die Menschen auseinanderreißen. Und eine Folge davon ist die verquere Psychologie von Menschen, die man nötigt, sich nicht zu ihrer eigenen Persönlichkeit hin zu entwickeln. Solche Personen leben im Über- Ich, in ständiger Angst vor sich.

STANDARD: Wer wird heute noch Priester?

Drewermann: Diese Frage ist zu individuell, um sie homogen in eine allgemeine Antwort zu kleiden. Richtig ist, dass zur Auflage der Würdigkeit, zum Priester geweiht zu werden, immer noch Auflagen, etwa der Zölibat, bestehen, die auf persönlicher Unerfahrenheit, im Grunde in der Festschreibung pubertärer Engführungen basieren.

STANDARD: Sie sprechen die Probleme der Kirche sehr konkret an, wurden dafür von der Kirche auch abgestraft: Resigniert man da nicht, weil sich nichts ändert?

Drewermann: Resignieren darf man nicht einer bestimmten Kirche wegen, man hat die Aufgabe zu tun, was im eigenen Leben stimmt, da muss und kann man nicht auf die Erlaubnis eines Papstes warten. Die Freiheit nimmt man sich oder man bekommt sie nie. Eine erlaubte Freiheit ist nur die verlängerte Leine für den Hund.

STANDARD: Seit hundert Tagen ist ein neuer Papst im Amt. Wie macht sich Papst Franziskus Ihrer Meinung nach?

Drewermann: Er setzt gute Zeichen. Aber es ist nicht die Frage, was ein alter Mann in Rom im Amt eines Papstes denkt oder beschließt. Die Frage ist, welche Art Mensch wir selbst sind. Das kann kein Papst beantworten. Das ist nicht zu delegieren an irgendeine Kirchenbehörde, die verkündet, was gerade dran ist. Jeder kann und muss das selbst wissen und hat die Pflicht, es zu leben.

STANDARD: Das Umdenken hat von den Gläubigen auszugehen?

Drewermann: Absolut.

STANDARD: Sind es Gruppen wie die Pfarrer-Initiative um Helmut Schüller, die eine Revolution von unten anzetteln können?

Drewermann: Wenn das Kraft hätte, ja. Natürlich ist es mit einer organisierten Auflehnung von großer Zahl im Kernbereich kirchlicher Beamtenschaft möglich, Veränderungen zu erzwingen. Nur ist es im Rahmen eines autoritären Systems nicht möglich, solche Mehrheiten auf Dauer zu organisieren.

STANDARD: Der Papst hat für Aufsehen gesorgt, als er von einer Schwulen- Lobby im Vatikan sprach.

Drewermann: Ich habe solche Dinge lang und breit in meinem Buch " Kleriker" beschrieben, im Wissen, nicht was im Vatikan passiert, sondern in der deutlichen Vermutung, dass es dort noch deutlicher ist als bei den Vikaren und Pastoren, mit denen ich zu sprechen die Gelegenheit hatte.

STANDARD: Hat Sie das verwundert, dass der Papst dieses heikle Thema anspricht?

Drewermann: Ich hoffe, dass man nach rund 90 Jahren Sigmund Freud begreift, dass so ein irrer Abwehrkampf, so eine Homophobie, wie sie in der Moraltheologie der katholischen Kirche besteht, ein reiner Verdrängungsprozess ist, der viel zu verbergen hat im Hintergrund. Schauen Sie sich die Priesterausbildung daraufhin nur an.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, der Vatikan habe in Europa die Kirche aufgegeben und konzentriere sich auf andere Kontinente ...

Drewermann: Es ist zynisch, Religion entlang der Religionsstatistik zu betrachten. Aber wenn Sie den Vatikan als Staat betrachten, ist der Zynismus auf der Hand liegend. Europa ist mehr oder minder dabei, in den Atheismus abzudriften, doch das hat tiefe Gründe: eine falsche Interpretation der Natur, ein Wunderglaube, als hätte es die Aufklärung nie gegeben, eine unsymbolische Auslegung der Bibel, ein absoluter Dogmatismus, der Menschen trennt, anstatt sie zusammenzuführen, eine absolute Machtbehauptung gegenüber den Kirchen der Reformation ...

STANDARD:Was bedeutet das für Europa?

Drewermann: Der Atheismus ist wie in allen anderen Jahrhunderten zuerst einmal eine Freiheitsreaktion auf den Zwang zu Unwahrhaftigkeiten. Die Atheisten ihrerseits müssten lernen, dass es schwer möglich ist, menschlich zu leben, wenn die Bilanz über unsere irdische Existenz durch den Tod gezogen wird, als ob wir am Ende nur erflehen könnten, einige Jahre genussvoll auf der Erde zugebracht zu haben. Ein solcher Lebensentwurf hat nicht annähernd die Kraft und das Engagement, das Sie in der Person Jesu verkörpert finden.

STANDARD: Herrscht heutzutage ein aggressiverer Atheismus?

Drewermann: Der aggressive Atheismus ist die Antwort auf eine aggressive, dogmatisch verfestigte, staatskirchlich verordnete Frömmigkeit. Natürlich schafft Gewalt Gewalt. Religion sollte außerhalb dieser Mechanismen einen Ort bieten, an dem Menschen zu sich selbst finden können. Dann würde die vermeintliche Aggressivität des Atheismus von alleine verschwinden. (DER STANDARD, 22.6.2013)