Lesermassen waren sicher schon beunruhigt, aber diese Woche konnten sie aufatmen. Endlich hatte "Profil" zu seiner Lieblingsthematik zurückgefunden: "Die psychiatrisierte Gesellschaft", schrie es vom Titelblatt, unterstützt von der originellen Frage: "Leidet wirklich jeder zweite Österreicher an einer psychischen Störung?" Oder doch nicht? Irgendetwas muss der Redaktion an der Sache nicht ganz geheuer vorgekommen sein, denn sie verspürte ein dringendes Bedürfnis, sich ihre Arbeit zu erklären. Es äußerte sich in der Rubrik "Aus der Redaktion. Wie entsteht die Idee für eine Titelgeschichte?" ward ein psychiatrischer Selbstversuch gestartet, mit der Ausrede: "Regelmäßig werden profil- Redakteure mit dieser Frage konfrontiert". Bei der Regelmäßigkeit von Titelgeschichten, vor allem von solchen in "Profil" ist die regelmäßige Neugier verständlich. "Von langer Hand geplant? Bei Redaktionsschluss in letzter Sekunde ausgewählt? Basisdemokratisch entschieden? Vom Herausgeber angeordnet? Bei einer solchen Fülle von Möglichkeiten erscheint eine eindeutige Antwort fast unmöglich, aber dann fällt sie doch. "Hier die eindeutige Antwort exklusiv: Es kommt darauf an".

Wem diese "eindeutige Antwort" auf eine Frage, mit der "profil-Redakteure regelmäßig konfrontiert werden", zu dunkel erscheint, dem wird überraschende Erhellung zuteil. "Aber jedenfalls: Meist entstehen die Geschichten über einen längeren Zeitraum hinweg durch Gespräche in der Redaktion und mit Ressortleitern sowie Chefredaktion". Sapperlot! Wer hätte das geahnt? Doch es geht auch anders. "Bei aktuellen Ereignissen wird oft kurzfristig entschieden oder umdisponiert". Keine Angst, "der Titel dieser Woche gehört zur ersten Kategorie", also zu der Art von "Geschichten über einen längeren Zeitraum hinweg", was nicht im geringsten überrascht, handelt es sich bei der "psychiatrisierten Gesellschaft" doch um einen Dauerbrenner, solange es das Magazin gibt.

Dabei lässt vieles darauf schließen, dass die österreichische Gesellschaft noch viel zu wenig "psychiatrisiert" ist. Ein Beispiel aus der "Neuen Freien Zeitung" der FPÖ. "Auch wenn die vereinigte Linke jetzt vor den Nationalratswahlen im Herbst versucht, die FPÖ und ihren Parteichef ins Abseits zu schreiben und medial möglichst wenig zu erwähnen, ist das Interesse der Österreicher an freiheitlicher Politik doch ungebrochen", fand der FP-Generalsekretär Harald Vilimsky. Beweis: "HC Straches politischen Ausführungen während der Zubereitung seines Wiener Schnitzels - vom Schwein, da dies kostengünstiger sei - mit Petersilkaroffeln und Rahm-Gurkensalat folgten 103.000 Zuseher! Das sei ein absoluter Spitzenwert gewesen, nicht nur für "Puls 4".

Die überwältigende Wissbegier ist vielleicht auch auf viele Zugereiste zurückzuführen, denen bei der Zubereitung einer österreichischen Leibspeise von deutschnationaler Hand neben der ersehnten Rezeptur für den Rahm-Gurkensalat auch die Offenbarung zuteilwurde, das Land möglichst bald wieder zu verlassen, weil es zu Hause doch am besten schmeckt. So war es zweifellos ein genialer strategischer Schachzug des Generalsekretärs, das Interesse der 103.000 Zuseher an einem "Wiener Schnitzel - vom Schwein, da dies kostengünstiger sei" -, sowie an "Petersilkartoffeln und Rahm-Gurkensalat" in ein Interesse an H.-C. Strache umzudeuten.

Da fällt es einem wie Schuppen von den Augen. "Umso verständlicher sei jetzt, so Vilimsky, die ängstliche Reaktion einiger Spitzen- und Möchtegern-Politiker, einer direkten Konfrontation mit dem FPÖ- Bundesparteiobmann in einer Zweier-Diskussion aus dem Weg zu gehen."

Was Vilimsky allerdings nicht voraussehen konnte, war die Weite, in der sich "die psychiatrisierte Gesellschaft" hierzulande inzwischen ausdehnt. Denn, wie nicht nur "Österreich" berichtete, "Frank Stronach ersann für den Wahlkampf eine Polit-Casting-Show", neben der das Panieren von Schnitzeln als Gipfel der Unoriginalität erscheinen musste. "Wir haben 1.000 Ideen gewälzt", sagt Tillmann Fuchs, neuer Wahlchef von Frank Stronach. Eine davon sei besonders "charmant und basisdemokratisch" gewesen."

Die Idee hat sich inzwischen herumgesprochen, und an ihr erweist sich wieder einmal, dass das Genie in Österreich auch dann verkannt wird, wenn es sich "psychiatrisch" äußert. Und das sogar in privaten Fernsehsendern. Dort darf ein Schnitzel paniert, aber ein Nationalratskandidat nicht gecastet werden. Schade, aber Stronach wälzt ja noch 999 andere Ideen. (Günter Traxler, DER STANDARD, 22./23.6.2013)