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"Ich möchte so müde sein dürfen, wie ich bin": Martin Walser in "Meßmers Momente".

Foto: Felix Kaestle/dapd

Drei Büchlein, eine Trilogie, vermutlich das Beste, was Martin Walser in seinen sechzig Jahren als Autor geschrieben hat. Mit Sicherheit das Dichteste, Ausgefeilteste. Gerade ist der dritte Teil von Walsers Notaten erschienen: Meßmers Momente. Einmal liegen achtzehn, einmal zehn Jahre zwischen den Vorläufern Meßmers Gedanken (1985) und Meßmers Reisen (2003).

Für einen so talentierten Ironiker, Darsteller frustrierter Kleinbürgerfiguren, empathischen Verfasser von Liebesgeschichten, kurzum: für einen geborenen Erzähler, dessen Romane manchmal auch ausufern und in einen ermüdenden Sound verfallen können, sind diese Notate von überraschender Konzentriertheit. Es kommt nicht so selten vor, dass ein literarisches Nebenprodukt später einmal zum Hauptwerk eines Autors wird. Das gilt heute vermutlich schon für Max Frischs Tagebücher (die Romane wirken verstaubt), die Notate des Österreichers Gerhard Amanshauser (Mansarden- und Terrassenbuch), Friedrich Dürrenmatts Stoffe (die Beschreibung einer Gedankenwelt anhand nicht ausgeführter Ideen - ausgerechnet!), die schnell hingeworfene Kindergeschichte Der kleine Prinz von Antoine Saint-Exupery, der für seine Fliegerromane bekannt war, oder Italo Calvinos Büchlein Palomar, das nur aus Beschreibungen besteht. Könnte es Walser mit den Geistesblitzen seines Meßmer nicht ähnlich ergehen?

Liest man die drei kurzen Bücher hintereinander, geht man mit Walser auf eine intime Reise. Keineswegs handelt es sich um die Aneinanderreihung von Aphorismen, es ist eine Entwicklung spürbar, die Walsers Veränderung in den vergangenen drei Jahrzehnten abbildet. Dabei geht es von außen nach innen, von der Reibung an der Welt zum Abschied von der Welt, vom Kampf zur Resignation, vom Aufruhr zur Ruhe. Meßmers Gedankenreise bildet das fortschreitende Altern ab, einen Weg zur Gelassenheit und zur Weisheit. Wenn es in den Momenten heißt: "Ich möchte so müde sein dürfen, wie ich bin", so ist das Ziel der Reise angegeben, das nur der Tod sein kann.

Je nachdem, wie man drei Jahrzehnte betrachtet, kann man es ein Gehen oder ein Rennen nennen, Meßmer meint: "Ich haste zum Grab", dann aber auch: "Tot gehör ich mir wieder." Die Sätze in diesem letzten Band werden immer kürzer, es gibt Notate, die nur aus drei Wörtern bestehen. Die Zeit wird knapp, entsprechend knapp muss man sie festhalten. Auch das gehört zum Altern der Autoren: Man denke nur an Becketts Stücke und die Ausgaben seines Verlags Éditions de Minuit, die manchmal gerade aus dreißig Seiten bestanden. In ähnlicher Radikalität bewegen sich die Meßmer-Notate auf das Schweigen hin.

In Meßmers Gedanken wird teilweise noch erzählt: "Sobald Dr. N. auftauchte, spürte Meßmer den Zwang, sich bei dem einzuschmeicheln (...)" ; in Meßmers Reisen finden wir über 65 Seiten tagebuchähnliche Einträge über Walsers Zeit als Gastprofessor in den USA, streckenweise mit Max Frischs Montauk (1975) vergleichbar, nur viel sarkastischer; in Meßmers Momente wird überhaupt nichts erzählt und nichts beschrieben, es wird einzig festgehalten.

"Festhalten" ist das richtige Wort in seiner doppelten Bedeutung: Festhalten im Sinne des Aufschreibens und Festhalten im Sinne von Aufbewahren, den Moment festhalten. Im Moment bleiben, weil alles so flüchtig und so schnell vorbei ist.

Alle alternden Menschen sagen, es gehe immer schneller, und fragen sich: Was bleibt übrig? Die Momente ergeben sich aus dem Blickfeld. Es kommt darauf an, wo einer hinschaut, und da gibt es Themenfelder, die sich durch alle drei Notatbände ziehen. Die Natur zum Beispiel, die durch das Fenster an den Schreibort (mit Blick auf den Bodensee) dringt; in ihr spiegelt sich der Schreiber, sie verstärkt Stimmungen oder löst diese aus.

Die Erfassung dieses Wechselspiels zwischen Natur und Mensch gehört zum Schönsten in allen drei Bänden. Na-tur und Witterung: Bäume, Vögel, Wolken, Wiesen, Winde, Wasser, Sonne.

Dieses Verhältnis kann Geborgenheit und Lust bedeuten: "Meine Füße im Gras, mit Millionen Zehen" (Meßmers Gedanken), aber auch Fremdheit: "Der Regen trifft mich nicht. Die Sonne scheint an mir vorbei" (Meßmers Momente). Natur ist, sie redet nicht: Dass der Mensch in ihr nicht aufgehen kann, sondern dass alles Naturerleben durch Sprache vermittelt ist, sobald wir uns dessen gewahr werden, denkt Walser immer mit.

Meßmers Gedanken kreisen immer wieder um die Sprache selbst, um das Schreiben und um die Differenz zwischen dem Bewusstsein und dem Natürlichen, Kreatürlichen. Ist Gott letztlich nicht der Vermittler zwischen dem Erschaffenen und uns Menschen, denn "er gab den Dingen einen Namen". Das ist ein großes theologisches Thema, das in den Notaten immer mitschwingt, obwohl kaum je von Gott die Rede ist. Auch die Verzweiflung über die Vergeblichkeit des Benennens ist Meßmer nicht fremd: "Das Notieren ist das provisorische Abdichten eines Lecks bei einem Schiff, das untergehen wird" (Meßmers Reisen). Alles ist provisorisch, und alles vergeht, aber in der Zwischenzeit können wir den Augenblick festhalten - und mit großem Gewinn Meßmer beim Verweilen zusehen. (Dante Andrea Franzetti, Album, DER STANDARD, 22./23.6.2013)