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"Die Frau in Rot" ist eine der Ikonen der Protestbewegung in Istanbul geworden. Ein Polizist sprühte der Stadtplanerin Ceyda Sungar am 28. Mai Pfefferspray ins Gesicht.

Foto: Reuters / Osman Orsal

Die türkische Polizei hat in den seit drei Wochen andauernden Protesten gegen die Regierung des konservativ-islamischen Premiers Tayyip Erdogan den Großteil ihrer Vorräte an Tränengas aufgebraucht. Informationen der Tageszeitung Milliyet zufolge soll das Finanzministerium den Ankauf 100.000 neuer Gaskartuschen genehmigen sowie die Anschaffung 60 zusätzlicher Wasserwerfer. 130.000 Tränengasbomben wurden demzufolge bei den landesweiten Protesten verschossen.

Sollte der Finanzminister der außerplanmäßigen Anschaffung zustimmen, könne auf den Sonderfonds des Regierungschefs zurückgegriffen werden. In der Nacht auf Mittwoch trieb die Polizei etwa 5000 Protestierende in der westanatolischen Stadt Eskisehir mit Tränengas auseinander. In Istanbul beruhigte sich die Lage. Regierungsgegner setzten an mehreren Orten der Stadt die neue Form des "Protest-Stehens" fort. Menschen standen regungslos in der Wartehalle des Bahnhofs Haydarpasa, auf der Istiklal- Straße und vor allem auf dem Taksim-Platz. Dort fanden sich Dienstagnacht allein oder in Gruppen an die tausend Menschen ein und sahen in Richtung Atatürk-Kulturzentrum oder aber zum Aufgang in den Gezi-Park, wo eine lange Reihe von Polizisten auf Plastiksesseln Platz genommen hatte.

"Wir werden nie aufgeben"

"Ich bin hier, um den Toten der Protestbewegung meinen Respekt zu zollen und der Forderungen der Gezi-Park-Bewegung wegen", sagte eine junge Türkin. "Wir werden niemals aufgeben."

Die Polizei erhielt offenbar die Anweisung, Menschen, die stehen, nicht mehr abzuführen. Mittwochmittag standen bereits einige Dutzend für Stunden in der prallen Sonne auf dem Platz. Vizepremier Bülent Arinç nahm als erster Regierungspolitiker Stellung zum "Protest-Stehen". Diese Form des Protests sei angenehm für das Auge und werde geduldet, solange der Verkehr nicht beeinträchtigt werde, sagte Arinç. Demonstrationen sind seit der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks am Taksim-Platz nicht mehr möglich. Gegner der Regierung, die dem seit zehn Jahren amtierenden Premier Tayyip Erdogan autoritäres Verhalten vorwerfen, fanden einen neuen Versammlungsort im kleinen Abbasaga-Park im Stadtteil Besiktas.

Medienberichten zufolge will die türkische Regierung einen Untersuchungsausschuss im Parlament einrichten, der sich mit den Vorgängen um die Besetzung des Gezi-Parks beschäftigen soll. Regierungspolitiker sind bemüht, die Besetzer als sittlich verkommene linksgerichtete Randgruppe darzustellen. Polizisten hätten Präservative in den Zelten gefunden, so wird behauptet. Erdogan gab an, die Protestierenden hätten Alkohol in der Dolmabahçe-Moschee getrunken, wo von der Polizei verfolgte Verletzte zeitweise Zuflucht gefunden hatten; der Imam der Moschee hat dies dementiert. Vor der Räumung am vergangenen Samstagabend kamen zeitweise an die 100.000 Menschen zur Protestbewegung auf den Taksim-Platz und in den Park.

In der nun zunehmenden Debatte über die Zukunft der EU- Beitrittsverhandlungen sandte die Regierung unterschiedliche Signale. Europaminister Egemen Bagis erklärte, die Türkei brauche die EU nicht; sie könne der EU auch sagen "Verzieh dich". Der Sprecher der Regierungspartei AKP betonte dagegen, die Türkei wolle weiterhin Vollmitglied der EU werden. (Markus Bernath, DER STANDARD, 20.6.2013)