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Foto: ap/harnik

Josef Cap möge mir vergeben. Schließlich bin ich heute nur noch fast ganz sicher, dass er es damals war. Es ist ein bisserl her. Und irgendwann verschwamm im Nachhall des Diskurses das Gesicht des Läufers, der mir da im Vorjahr entgegengekommen war, mehr und mehr: Ich wäre heute durchaus bereit, zu widerrufen. Schließlich war auch mir heiß. Und ich hatte Schweiß in den Augen. Andererseits ... aber egal.

Jedenfalls weiß ich seit gestern, dass auf den ersten Blick kein Verlass ist. Und: Josef Cap ist keine Entschuldigung. Zumindest nicht dort, wo man gesehen werden kann. Denn dort holte mich die Vergangenheit ein: Ich erlebte nämlich den Bawag-Spot live. Ja, den, an den Sie jetzt denken: die schräge Wiese. Die glückliche Familie. Die hüpfenden – äh – Kinder (und falls Sie zu jung sind: Schauen Sie sich das an).

Allerdings surfte ich nicht im Netz, sondern lief durch die Stadt. Vor dem Burgtheater geschah es: hops, hops, hops. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich die Genderfalle: Keine Frau würde so laufen. Das tun nur Männer. Und so, wie der stämmige, nicht mehr wirklich junge Mann stets um sich blickte, war klar: Er hielt sich für ein ästhetisches Geschenk. An die Welt im Allgemeinen – und die der Frauen im Besonderen.

Männer sind so. Und Frauen höflich: "Das tut schon beim Hinschauen weh. Darum tragen wir Sport-BHs", lachte meine Begleiterin – aber erst, als der shirtlose Läufer außer Hörweite war. "Außerdem ist es prolo." Ich lachte mit, war aber betroffen: Ich bin nämlich auch prolo. Wenn auch nur im Wald. In der Au. Auf der Insel. Am Strand. Gegen Skrupel und Anfechtung habe ich eine Absolutionsformel parat: "Cap. Cap. Cap." Hatte. "Außerdem ist es prolo."

Dürfen Männer also ohne Shirt laufen? Erste Anlaufstelle war Michael Buchleitner. Der Ex-Laufprofi betreut die Laufteams großer Konzerne, moderiert den Vienna City Marathon im ORF und veranstaltet den Wachau-Marathon. Abgesehen davon habe ich kaum einen Sportler gesehen (David Beckham ausgenommen), der besser angezogen ist. Beim Sport, aber auch am Weg dorthin: Während meine Kollegen und ich in Urlaubsfetzen 2012 zum TUI-Marathon nach Mallorca flogen, kam Buchleitner – unser Coach bei diesem Pressetrip – da mit Anzug. Maßschuhe. Mantel. Maßhemd.

Der "arbiter elegantiarum" der Laufszene gab sich diplomatisch: "Einen Dresscode gibt es nicht, aber ich halte es für angebracht, ein Shirt zu tragen. Abgesehen davon, dass es den Schweiß aufnimmt, schützt es auch vor der Sonne", erklärte Buchleitner. Und wurde konkret: "Leider haben die wenigsten Männer, die oben ohne joggen, den Körper dazu. Wenn ich mit Damen laufe, so äußern die sich eher kritisch." Ich schluckte: In Mallorca trainierte ich ohne Shirt. Und hatte Buchleitners und der Damen Lächeln für Anerkennung gehalten. Ja, ja, Männer und ihr Selbstbild.

"Too much ugga-ugga"

Aber vielleicht irrte sich der Coach ja. Also fragte ich die Kollegen, die mitgeflogen waren. "Too much ugga-ugga", brachte es die Kollegin von einem Branchenmagazin auf den Punkt. "Die wenigsten Rücken entzücken", erklärte die TUI-Pressesprecherin – und die Dame von Niki sprach gar von "gutem Benehmen". Nur die Kollegin von den "Oberösterreichischen Nachrichten" differenzierte: "Es ist wie im Schwimmbad: Muskulöse Männerkörper sieht man gerne, schwabbelige Fettschwarten sollten bedeckt sein."

Hmpf. Männersolidarität? "Wer ins Schwimmbad geht, weiß, was auf ihn zukommt. Laufen kann man überall, also sollte man aufpassen", erklärte der Kollege von der "Presse" – und der Mann von "Heute" sagte klipp und klar: "Passendes oder von mir aus auch nicht passendes Outfit gehört dazu. Aber: auf alle Fälle was drüber!"

Ich dachte an Josef Cap. Fast tat er mir leid. (Ich mir selbst sowieso). Aber vielleicht hatte ich die Falschen gefragt: Ob ein weiblicher Laufcoach das wohl anders sähe? Ruth Riehle zum Beispiel. Die Antwort der Personaltrainerin, die neben ihren Coachings in Wien auch Sight-Running anbietet, war leider eindeutig: "Gegenfrage: Warum muss ich mir schwitzende, meist unästhetische Oberkörper bei meinem Laufen anschauen, wo ich doch genießen und entspannen will? Die allerwenigsten attraktiven Männer laufen oben ohne. Abgesehen davon kann mir keiner weismachen, dass in einem luftigen ärmellosen Shirt mehr geschwitzt wird als oben ohne."

"Nicht ernst zu nehmender Athlet"

Ausführlicher erklärte Roman Daucher, Chef der Eurofitness Academy und TV-Fitnesscoach bei Puls 4, dass oben ohne peinlich ist: "Egal ob du die 1.000 Meter in 2:30 laufen kannst oder in 7:30 – ein Oben-ohne-Läufer disqualifiziert sich grundsätzlich als ernst zu nehmender Athlet, zumal dieser narzisstische Fauxpas von den 'wahren Läufern' (also denen mit Leiberl) als Akt der Selbstverherrlichung, ja, schlimmer, sogar als Selbstbefriedigung ausgelegt wird. Das Signal 'Schau her, ich bin nicht nur schnell, sondern auch schön und somit sexuell anziehend' interessiert bei einem intensiven Intervall genau niemanden. Außerdem stinken die Oben-ohne-Läufer. Punkt."

Daucher warf gleich noch ein Thema auf: die sogenannten "Baumwoll-Opfer". Die sind zwar nicht so geächtet, befinden sich aber in der Ernsthaftigkeits-Skala nur unwesentlich über den Oben-ohne-Läufern. Baumwoll Opfer erkennt man an der gebückten Haltung – Das Leiberl hat das Gewicht eines Kettenhemds – und blutigen Stellen in Höhe der Brustwarzen." Funktional bekleidet, so Daucher, könne man nichts falsch machen: "Egal ob dein Shirt von Nike, Adidas oder Reebok ist: Am Ende des Trainings muss es nach Puma riechen."

Eindeutiger geht nicht. Aber: Sehen weniger der Leistung denn der Ästhetik zugewandte Profis das anders? "Das ist mal meine modische Meinung", erklärte Clara Bilek. Die Modechefin von "Woman" betonte, "sportliche Funktionalität" hintanzustellen. Bloß war ihr Fazit ebenso absolut: "Oben ohne geht gar nicht. Das erinnert mit Grusel an den den Strand entlangjoggenden David Hasselhoff."

Auch Bilek erweiterte das Thema: "Unten nicht zu eng und nicht zu kurz, am besten Doppelshorts mit eingenähter Radler- und darüber lockerer Boxer-Style-Short. Socken nicht hochziehen und keine weißen Tennissocken, am besten Socklinge, die in den Schuhen verschwinden." Bei "Woman" scheint es aber Diskrepanzen zwischen Print- und Online-Mode zu geben. Denn Michaela Ambos, Modechefin bei "Woman Online", ist toleranter: "Jeder und jede, wie er oder sie mag und sich selbst gefällt. Braungebrannte, muskelgestählte Körper sind da natürlich eher ein Hingucker als das Gegenteil."

Wer sagt's den Männern?

Das mit den "Hinguckern" betont auch Kristina Inhof. Sie moderiert bei Puls 4 Fußball und bei W24 ein Infomagazin und ist die Stimme zahlreicher Laufevents: "Möchtest du selbst oben ohne laufen, oder geht es allgemein darum, ob Typen wie Matthew McConaughey oben ohne laufen?", fragte sie und schickte ein Foto des Schauspielers: "Weil, dann ist's okay." Ich versuchte, den Tiefschlag zu ignorieren: "Wer soll es Männern sagen, dass sie nicht dem McConaughey-Soll entsprechen?" Inhof: "Ihre Frauen." Und wenn sie keine haben? "Die Mutti."

Zum Glück gibt es noch andere Instanzen. Adi Weiss etwa. Der umtriebige Betreiber der Modeplattform adiweiss.at und TV-Stilberater outet sich aber auch als "kein Fan des Oben-ohne-Laufens". Dennoch warf er ein neues Argument ein: "Nur weil aus mir der Neid spricht beim Anblick männlicher Sixpacks: Wäre ich einer dieser toll durchtrainierten Typen, ich würde den ganze Tag oben ohne laufen und den Dresscode 'oben ohne' sofort einführen."

Weil das aber nicht nur für ihn selbst gilt, rät Weiss: "Vorher einen prüfenden Blick in den Spiegel werfen, ob das Baucherl wirklich gezeigt werden kann."

Vorlagen für das Idealbild gibt es zuhauf. Nicht nur auf Celebrity-Portalen, auch im Museum: Nicht jede Epoche war sportlich so prüde wie die Gegenwart. Der Athlet der Antike hatte beim Sport nicht nur den Oberkörper frei – und das, meint "Falter"-Kolumnistin Andrea Dusl, wäre doch ein Ansatz: "Oben ohne geht nur in Zusammenhang mit Wasser und kurz nach einem Endspiel-Tor. Und, ja, im Ring. Wer unbedingt ohne laufen will, soll so viel Mut haben, das ganz ohne zu tun, also nackt zu sporteln wie damals die alten Griechen."

Freilich: An Josef Cap hat Dusl da wohl nicht gedacht. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 19.6.2013)