Ein Cottage in Irland sollte ein eigenes Schaf haben. Das wünscht man sich insgeheim. Eins, das schon in der Früh auf dem Rasen grast und die Bewohner beim Blick aus dem Fenster freundlich grüßt. So abwegig ist das natürlich nicht. Schließlich trotten auf der grünen Insel rund fünf Millionen Exemplare über die Wiesen. Allein in der Region Connemara, wo auch die kleine Ortschaft Leenaun liegt, weiden eine gute Million.
Dieses Dorf im äußersten Westen Irlands schmiegt sich an den Kopf des Killary Harbour und an den einzigen Fjord der Insel. Der Atlantik hat sich hier fünfzehn Kilometer in die karge Hügellandschaft gefräst und am Ende einen Schlund gebildet. Zum Cottage "Killary View" fährt man von der Ortsmitte hundert Meter in Richtung Westport und dann gleich rechts rein, stand in der Wegbeschreibung vom Vermieter. Doch alle Häuser sehen gleich aus, traditionell einstöckig und mit grauem Dach. Auch die drei Leenauner am Ortsausgang kennen es nicht. "Killary View hat man hier von überall", sagt einer, und die beiden anderen grinsen nur.
Survivalpaket für ein Cottage
Das gesuchte Haus ist gefunden. Draußen steckt der Schlüssel, und drinnen wartet auf dem Küchentisch bereits ein Survivalpackage für den ersten Abend und den darauffolgenden Morgen: Toast, Muffins, Instantkaffee und eine Flasche französischen Rotweins.
Aufgeschreckt vom lauten Aufziehen der Vorhänge nach der ersten Nacht, starrt ein entgeistertes schwarzes Schafgesicht, das in einem weißen Wollknäuel steckt, von der Terrasse zum Ferienhaus herüber. Gleich trabt noch eins heran, ein kleineres mit schwarz-weiß gepunkteter Nase und gesprenkelten Beinen. Als die Terrassentür aufgemacht wird, preschen beide über die Hügel davon. Zeit, sich umzusehen, was sich in diesen Hügeln noch verbirgt.
In Irland leben laut Statistik dreiundsechzig Menschen pro Quadratkilometer. Für die Gegend um Leenaun kommt das sogar hin. Das Dorf hat eine Hauptstraße, eine Tankstelle, zwei Pubs, ein Hotel, zwei Restaurants, eine Kirche und rund fünfzig Häuser. Es gibt kein Kino, keine Fast-Food-Kette, kein Shoppingcenter und keinen Swimmingpool. Das einzige Geschäft verkauft Toast, Instantkaffee, Marmelade, Cheddarkäse mild oder würzig und Schinken. Außerdem hat es Lebensnotwendiges wie Guinness in Flaschen, Kartoffelchips, Spülmittel und Katzenfutter - und vor allem hat es täglich geöffnet.
Für die Abende in Leenaun gibt es eine leicht verständliche Regel: Wenn das Hamilton's geschlossen ist, hat das Gaynor's offen. Die beiden Pubs sind wie überall der Pub in Irland das Zentrum einer ländlichen Gemeinde, ein öffentliches Wohnzimmer für den Alkoholgenuss mit Familienanschluss. Hinter der viktorianischen Fassade des Gaynor's schlägt einem eine Welle aus Reden, Gelächter und Musik entgegen, und der Inhalt der Biergläser ist schwarz wie der Torf, der hier gestochen wird.
Schaum und Schank
"Two pints, please", sagen Zugereiste, bezahlen, und zwei Gläser wandern unter den Zapfhahn. Sobald sich der helle Guinness-Schaum dem Glasrand nähert, holen sich die Durstigen das Bier. Dann allerdings stürmt eine blonde Lady hinter der Schank hervor und nimmt sie einem wieder ab. "Ich entscheide, wann sie fertig sind", brummt sie. "Der Schaum muss sich erst setzen." Irgendwann bringt sie die Gläser, die Schaumkrone mit einem Kleeblatt verziert, schmunzelt versöhnlich.
Und täglich grüßt das Schaf. Schon kurz nach Sonnenaufgang. Dann knirscht zuerst der Kies unter dem Schlafzimmerfenster, und der Weckdienst setzt zur Blökarie an. Schafe kennen das irische Sprichwort ja nicht: "Als Gott die Zeit machte, hat er genug davon gemacht." Zufrieden beginnt das eine zu grasen, dann trottet wieder das andere hintendrein. Hamlet und Sally hat die beiden irgendwer getauft.
Es weht ein milder Westwind, die Luft schmeckt nach Salz und Seetang. Eine kurze Hose, ein Pulli und feste Schuhe genügen für die Wanderungen zum Fjord, auf den 645 Meter hohen Berg Devilsmother oder zu den Aasleagh Falls, jenen Wasserfällen am Errif River, wo 1990 der Film The Fields mit gedreht wurde. Die drückende Armut, von der der Streifen erzählt, ist zum Glück längst passé.
Am Ortsschild kann man ablesen, dass das Gälische hier noch Bedeutung besitzt: Der Ortsname An Líonán steht an erster Stelle, das offizielle, englische Leenaun folgt erst darunter. In einen Steinklotz daneben ist zudem die alte Version Leenane gemeißelt, die viele der Einheimischen verwenden. Die kurvige Hauptstraße hinter dem Schild ist von Feldsteinmauern und Hecken aus Hortensien, Fuchsien und orange blühenden Lilien gesäumt. Um dem immer rasenden Milchwagen zu entkommen, muss man da schon mal hineinspringen, wie auch Hamlet und Sally es tun, wenn sie vor Fremden im Cottage flüchten.
Selbst am Sonntag kommt man in Leenaun gern ins Gaynor's - zum Kartenspielen vor dem Kamin, zum Tratschen oder auch nur für einen schnellen Snack: Eine Suppe mit Brot und ein deftiges Irish Stew, den Gemüseeintopf mit Hammelfleisch, gibt's immer. Fremde werden in diesem Pub überhaupt erst beachtet, wenn sie drei Tage in Folge aufgetaucht sind. Dann nämlich könnten sie vielleicht auch ein viertes Mal kommen - und als Anerkennung bröckeln knurrige Fassaden, dahinter taucht warmherzige Gastfreundschaft auf.
Patrick, Edward und Breda
Dann bestätigt sich ebenso, dass der Ire vom Nebentisch Patrick heißt, rothaarig ist und trinkfest. Oder doch Edward, blond ist und ausschließlich Tee trinkt. Sogar Breda, deren Familie den Pub in fünfter Generation führt und die bis heute als Einzige entscheidet, wann nun ein Guinness trinkfertig ist, begrüßt neuerdings per Handschlag. "Noch ein Pint?" fragt sie ganz zahm und schiebt gleich nach: "Bei uns gibt es nämlich keine Polizei."
Wind kann nirgendwo so pfeifen wie in Irland. Im Nordatlantik scheint er von allen Seiten über die 70.273 Quadratkilometer große Insel zu blasen. Er ist das Getöse auf dem Klippenrand vom Killary Harbour. Er ist das Klatschen an den Rümpfen der Schiffe im Fjord. Und er ist es wohl auch, der die Connemara-Schafe anregt, besonders dicke Wolle zu tragen.
Wenn er Nebelschwaden zwischen die bemoosten Hochkreuze frühchristlicher Friedhöfe wie in Clonmacnoise bläst, sorgt er dabei auch für Wechselspiele von Licht und Schatten. Dann schimmern die Wiesen, Moore und Fichtenforste smaragdgrün, angeblich in vierzig Schattierungen. Selbst nebelgraue Schlösser wie Kylemore Abbey leuchten dann.
Nach dem Regenschauer spannt sich ein schillernder Regenbogen über den Fjord bis zur Brücke, hinter der das Leenaun Sheep and Wool Center liegt. Es ist eine Art Geschäft mit Café und Museum, in dem man viel über die Ortsgeschichte erfährt. Wie etwa, dass im Jahr 1900 noch die Hälfte der Bevölkerung von der Wolle lebte, bevor das Geschäft dreißig Jahre später nur noch so wenig eintrug, dass es aufgegeben wurde.
Muscheln und andere Moden
"Die Mode verlangt nach besseren Qualitäten wie Cashmere, Merino und Mohair", sagt eine Dame vor den alten Fotos der Gerber. Leenaun lebt heute vom Tourismus und der Muschelzucht, aber nicht von seinen 5000 Schafen. Hamlet und Sally kennen allerdings alle im Ort. Die beiden leben wild, sagt später einer im Pub, ein Mutterschaf mit ihrem Lamm. Aha, Hamlet ist also gar kein Bock. "Bei unseren Blackfacesheeps tragen auch Damen Hörner", erzählt er und lächelt amüsiert.
Auf dem Weg zurück ins Cottage prasselt wieder der Regen los. Elektrisiert von wütenden Sturmböen, tanzen die Wellen im Fjord einen Quickstep. Der Wind bürstet das Dach und plättet selbst das zähe Stechgras im Garten. Die Böen dröhnen und legen noch einmal zu. Nebelschleier und sonnengerahmte Wolkenbilder wechseln einander ab. Es ist ein filmreifes Schauspiel, zu dem heiße Schokolade mit Malzwhiskey am besten passt. Man gewöhnt sich schnell an, das Radio auszuschalten, wenn die Konkurrenz übermächtig wird: Der Wind musiziert wie Harfe und Dudelsack, der Regen gibt die Drums. So muss der irische Sound entstanden sein.
Mit einem Mal ist es wieder still. Über dem Fjord reißt der Himmel auf, wo die letzten Fetzen schwarzer Orkanwolken den Blick auf einen tiefroten Sonnenuntergang freigeben. Darüber trotten bauschige weiße Wolken wie Schafe. Nur Hamlet und Sally auf der Weide sind nicht mehr zu sehen. (Beate Schümann, DER STANDARD, Album, 15.6.2013)