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Schluss mit lustig: Die Love Parade wurde von Berlin ins Ruhrgebiet verlegt, und nachdem dort die letzte Love Parade vor drei Jahren mit 21 Toten und 541 Verletzten endete, war auch den Zugedröhnten klar, dass sie in Wirklichkeit kein Spaß war.

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Iris Hanika: "Es gibt jenseits österreichischer Kaffeehäuser, soweit sie mir bekannt sind, so gut wie keinen Ort mehr, an dem man nicht mit schriller Lautsprechermusik gequält wird."

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Ganz speziell frage ich mich natürlich, wie die Tochter meiner Nachbarn unter mir, die Leute, die im linken Nebenhaus im Dachgeschoß, und die, die zwei Häuser nach rechts im dritten Stock wohnen, das aushalten, aber ich frage mich sowieso, warum die sich Techno nicht in der Disco ("Club" ) anhören, sondern daheim in ihren Wohnzimmern, die doch Rückzugsorte sein sollten, wobei es sich bei der Wohnzimmerversion auch noch um besonders dumpfbackige Varianten dieser sogenannten Musik handelt.

Der Körper reagiert sofort und unmittelbar auf Musik, und zwar auf jede, und über den Körper wirkt die Musik aufs Gemüt. Doch während etwa die gespannte Dynamik einer Haydn-Symphonie eine beglückende Leichtigkeit vermittelt und das Gefühl, man könne alles schaffen, weil es gar nichts gibt, das eventuell nicht zu schaffen wäre (kein Wunder, immerhin begleitete diese Musik die Französische Revolution), vermitteln einem die imperativen Techno-Bässe ein Gefühl der Beklemmung, und in meinem Fall tun sie das nicht nur, wenn ich mich im Herzen der Bestie, einem Techno-Club, aufhalte, sondern auch, wenn sie von der Dachterrasse des Nachbarhauses herüberschallen.

Beklemmungen in der Herzgegend, der ganze Körper im Alarmzustand, dadurch Atemnot. Weil einem das Herz tatsächlich abgedrückt wird. Darum verstehe ich auch ganz und gar nicht, warum die Techno-Umzüge ausgerechnet "Love Parade" hießen. Wie soll sich in einem mit eisernen Ringen zusammengedrückten Brustkorb die Liebe entfalten können?

Es ist der Soundtrack der Verblödung, wobei zu fragen wäre, was zuerst da war. Muss man verblödet sein, um sich schon am helllichten Tag diesem Frontalangriff auf die Grundfunktionen des Körpers auszusetzen, oder verblödet man erst, indem man das tut? Es ist jedenfalls keine Musik, die irgendeine Form von Konzentration zuließe, klare Gedanken sind da nicht zu fassen, aber klare Gedanken sind vermutlich gar nicht gewünscht. Techno ist eine Weiterentwicklung der chinesischen Wasserfolter, und dem setzen die Leute sich freiwillig aus. Die jungen Leute natürlich, die jungen Leute. Die verstehe ich nicht, weil sie meine Kinder sein könnten, aber auch wenn ich sie verstünde, würde ich den Angriff auf meine körperliche und seelische Unversehrtheit nicht hinnehmen wollen.

Klare Gedanken nicht gewünscht

Meine Theorie zu Techno formte ich, als ich einmal in einer lauen Sommernacht mit dem Fahrrad an einem am Spreeufer in Zentralberlin gelegenen alten Industriegebäude vorbeifuhr, aus dem es herausdröhnte, als würde dort noch produziert. Was da herausdröhnte, hörte sich so an, wie ich mir den Lärm der Maschinenhallen des späten neunzehnten Jahrhunderts vorstelle, der mir erspart blieb. Nur knallten da keine Dampfhammerschläge, sondern elektronisch erzeugte Bässe in unerbittlicher Regelmäßigkeit und in einer Geschwindigkeit, der das Herz nicht folgen konnte. Die Luft so lau, der Krach so groß, die Nacht so laut, der Krach lebensbedrohlich. Da dachte ich, Techno sei erfunden worden, um diese Maschinenhallen, nachdem sie lange nicht benutzt worden waren, wiederauferstehen zu lassen.

Die Vorfahren der Techno-Anhänger, unser aller Vorfahren kämpften um Lärmschutz für Fabrikarbeiter, und nun, da er flächendeckend vorhanden ist, sehnen sich die Nachkommen nach dem Krach. Wer den ganzen Tag am Computer sitzt, hört sich in seiner Freizeit etwas an, das nach einer Arbeit klingt, die sofort und unmittelbar greifbare Ergebnisse zeitigt, die bereits in ihrem Werden verfolgt werden können. So ist Computerarbeit nicht. Dazu passt, dass der Techno-Terror nur in der allertiefsten Nacht stattfindet (außer bei den Love Parades, die ein schlimmes Ende nahmen) – er ist die vollkommene Umkehrung der heutigen Arbeitsbedingungen.

So dachte ich. Es kann sein, dass diese Theorie schon längst im Umlauf ist, und es kann auch sein, dass man solche Ideen nicht "Theorie" nennen braucht, weil sie sowieso unmittelbar jeder hat.

Mein Verdacht ist, dass dieses Bedürfnis nach Krach daher rührt, dass die Leute, die ihn schätzen, schon im Säuglingsalter darauf konditioniert wurden, dass Leben und Krach dasselbe sind, denn bis vor wenigen Jahren quietschten neun von zehn Kinderwägen. Wenn ich so einem quietschenden Kinderwagen begegnete, fragte ich mich jedes Mal, ob die Kinderwagenschieber denn taub seien, ob sie sich denn nicht um die Gesundheit ihres Kindes sorgen, wenn sie den Aufenthalt in einem Kinderwagen für ihr Kind zu einer tinnitusähnlichen Erfahrung machen. Es kann sein, dass viele Eltern darum anfingen, sich ihre Kinder vor den Bauch zu schnallen, statt sie in einen Kinderwagen zu legen, also nicht nur, damit den Kindern das Urvertrauen nicht verlorengeht usw., sondern eben auch, um sie nicht diesem Gequietsche auszusetzen.

In Hubert Fichtes von Brasilien am Anfang der Siebzigerjahre berichtenden Text Bahia de Todos os Santos steht:

Schrille Lautsprechermusik, die irgendein Politiker oder Lehrer oder Kramladen den Armen spendiert.

Die Elenden haben nicht einmal das Recht auf Stille.

Vielleicht finden sie den Lärm unterhaltsam.

Auf jeden Fall verweigert man ihnen die Möglichkeit, die Stille vorzuziehen.

Inzwischen gehören wir alle zu den Elenden, denn es gibt jenseits österreichischer Kaffeehäuser, soweit sie mir bekannt sind, so gut wie keinen Ort mehr, an dem man nicht mit schriller Lautsprechermusik gequält wird. Es hat niemand mehr ein Recht auf Stille, vielmehr können sich die meisten offenbar gar nicht mehr vorstellen, dass es ein solches Recht geben könne.

Einmal war ich in ein sehr teures Lokal eingeladen, und als ich hineinkam und auch dort Lautsprechermusik hörte, wunderte ich mich sehr darüber, dass nicht einmal die Reichen mehr vom Lärm verschont werden. Jedoch erklärte mir der Kellner, dass die Beschallungslautstärke dem allgemeinen Lärmpegel angepasst werde; solange das Lokal leer sei, höre man die Musik deutlich, wenn es aber voll sei, werde die Lautstärke heruntergefahren, sodass es immer gleich laut sei.

Es gibt zwar kein öffentliches Leben ohne Beschallung mehr, doch wird deren Lautstärke für die Nichtelenden auf einem vermutet erträglichen Niveau gehalten, zumindest in diesem speziellen Lokal. Ich war auch schon einmal in ein anderes eingeladen, in Chicago, in dem die Musik so laut war wie in der Disco. Das ersparte einem die Unterhaltung.

Die Elenden schlagen zurück. So verstehe ich die Allgegenwart der Lautsprecherbeschallung. Weil sich einen Lautsprecher inzwischen jeder leisten kann, können die Elenden dem Rest der Welt das Dasein ebenso unangenehm machen, wie ihr eigenes ist, indem sie den Rest der Welt mit Musikdreck beschallen. Weil aber Beschallung an sich nichts Ungewöhnliches mehr ist, wird nun zu härteren Mitteln gegriffen, zu den imperativen Bassbeats des Techno.

Herz und Hirn abschalten

Techno ist die schrecklichste sogenannte Musik, die es gibt. ("Sogenannte" nenne ich jede Musik, die einem Herz und Hirn nicht öffnet, sondern abschaltet.) Das konnte man schon in seiner Blütezeit erkennen, als in Berlin jährlich eine Love Parade veranstaltet wurde, die Horden von mit Drogen zugedröhnten halbnackten Vollidioten einen Tag lang die Gelegenheit gab, die zentrale Grünfläche der Stadt zu verwüsten. Irgendwann wurde die Love Parade ins Ruhrgebiet verlegt, das mit seinen Industriebrachen sowieso besser für sie geeignet war, und nachdem die letzte Love Parade vor drei Jahren in Duisburg mit einundzwanzig Toten und fünfhunderteinundvierzig Verletzten endete, war auch den zugedröhnten Vollidioten klar, dass sie in Wirklichkeit kein Spaß war, sondern die Hölle. Darum hat sie insgesamt geendet, das heißt, der öffentliche Spaß hat geendet.

Er hat sich nun ins Private verlagert, man macht sich den Terror daheim. Und ich frage mich, warum. Vermutlich werden die Kinder der Techno-Freunde Blockflöte spielen lernen und freiwillig im Chor singen. (Iris Hanika, Album, DER STANDARD, 15./16.6.2013)