Im Sommer, wenn die europäischen Massen an die Strände pilgern, steigen auf der anderen Seite des Mittelmeers wieder afrikanische Flüchtlinge in überfüllte Boote, um die Küsten Europas zu erreichen.

Das Mittelmeer ist in den vergangenen Jahren zu einem Massengrab afrikanischer Flüchtlinge geworden. In den vergangenen 15 Jahren starben mindestens 14.000 Flüchtlinge bei dem Versuch, die Küsten Europas zu erreichen. Alleine 2011 kamen laut dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen mehr als 1.500 ums Leben.

Hunger, Perspektivenlosigkeit und Krieg fragen nicht nach einem politischen Programm Europas. Sie existieren. Wie die Menschen, die davor fliehen. Die Frage ist nur, wie Europa damit umgeht.

Kriegserklärung an irreguläre Migration

Der Abbau der Schranken innerhalb Europas und die Erweiterung der europäischen Freiheiten haben zu einer eingeschränkteren Bewegungsfreiheit der Menschen außerhalb geführt. Fast ein kompletter Kontinent erklärt irregulärer Migration (wie sonst sollen Flüchtlinge nach Europa gelangen?) den Krieg. Fregatten, Flugzeuge, Helikopter, Drohnen und Satelliten - alles klassisch militärische Mittel - sind die Ausrüstung Europas im Kampf gegen irreguläre Migration. Die Darstellung der Hauptmigrationsrouten auf Karten erfolgt mit Pfeilen und Keilen, als ob Flüchtlinge feindliche Panzerbrigaden auf dem Weg nach Europa wären.

Als die Menschen in Kairo und Tunis für ihre Freiheit protestierten und starben, gestand Europa reumütig die Unterstützung der autoritären Regime in der Vergangenheit ein. EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle mahnte, dass Europa seinen Werten treu bleiben und sich für die Menschen einsetzen müsse, die für diese Werte kämpfen.

Grenzkontrollen werden ausgelagert

Die Realität an den Außengrenzen Europas lässt diese Worte nicht einmal mehr als Zerrbild ihrer selbst erahnen. Europa beschränkt sich nicht auf eine Verstärkung der Grenzen. Nein, Grenzkontrollen werden zunehmend ausgelagert. Irreguläre Migration (und damit auch Flüchtlinge) gelten als Gefahr, die mit militärischen Mitteln präventiv verhindert werden muss.

Europäische Fregatten patrouillieren in den Küstengewässern des Senegal, private Flugunternehmen kontrollieren bereits in den Abflugländern die nötigen Einreisepapiere, Drittstaaten werden mit finanziellen Anreizen ermutigt, ihre Grenzkontrollen zu verstärken.

Doch was und wen wollen wir verhindern? Menschen, die auf ihrem Recht auf eine bessere Zukunft bestehen? Menschen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass ihre Bewegungsfreiheit durch den falschen Pass eingeschränkt ist? Wovor fürchtet sich Europa? Keine ausländischen Truppen und Terroristen stehen uns gegenüber: Es sind Menschen, die fliehen - vor Perspektivenlosigkeit, Korruption, Krieg oder Verfolgung.

Wozu, lässt sich einwenden, haben denn Staaten Grenzen, wenn sie nicht bestimmen, wer ihre Grenzen überschreiten darf und wer außen vorgelassen wird? Völkerrechtlich ist es das souveräne Recht eines jeden Staates, selbst darüber zu bestimmen, wer unter welchen Voraussetzungen Zugang zu seinem Staatsterritorium hat. Jedoch haben alle EU-Mitgliedsstaaten die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Diese schreibt den Vertragsstaaten vor, dass kein Mensch in ein Gebiet zurückgeschoben werden darf, in dem ihm Gefahr für sein Leben oder seine Freiheit droht. Die Europäische Grundrechtecharta legt zudem ein Recht auf Asyl fest, was als Recht auf ein faires Asylverfahren verstanden wird.

Moralische Verpflichtungen

Genau hier beginnt der Übergang einer moralischen Diskussion in eine rechtliche Feststellung. Gegenüber jenen, die auf eine bessere Zukunft hoffen, haben wir moralische Verpflichtungen. Schutzsuchenden gegenüber (nach der Genfer Flüchtlingskonvention) haben wir rechtliche Verpflichtungen, diese aufzunehmen und ihren Asylantrag zu prüfen - sei dies an der Grenze oder auf der hohen See. Bereits vor einem Jahr verurteilte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof Italien wegen des Abfangens von somalischen und eritreischen Flüchtlingen auf hoher See und deren Rückführung nach Gaddafis Libyen.

Ein Schelm, wer glaubt, dass Europa Einsicht habe. Den letzten großen Ausbauschritt bei der Auslagerung der Grenzkontrollen stellt ein Vorschlag der EU-Kommission dar, in dem diese die Verabschiedung einer Verordnung zum Aufbau eines Überwachungsnetzwerks (EUROSUR) empfiehlt.

Europa führt die Auslagerung von Grenzkontrollen unbeirrt fort - und untergräbt dabei systematisch menschenrechtliche Verpflichtungen und Flüchtlingsrecht. In der Praxis ist die Unterscheidung zwischen einem Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention und einem "normalen Migranten" nicht möglich. Sucht jemand um Schutz an, muss ein Asylverfahren durchgeführt werden.

Erst in diesem kann festgestellt werden, ob die Flüchtlingseigenschaft zutrifft oder eben nicht. Europa rühmt sich weltweit bester Asylsysteme (mit wenigen Ausnahmen) - zu Recht. Doch wozu existieren diese, wenn Europa den Schutzbedürftigen den Zugang verwehrt?

Zudem ist nach der Genfer Flüchtlingskonvention ein Flüchtling, wer die Grenzen seines Heimatstaates überquert. Wenn Europa in gemeinsamen Operationen mit Drittstaaten Menschen überhaupt am Verlassen ihres Heimatstaates hindert, werden die rechtlichen Verpflichtungen ad absurdum geführt. Denn rechtlich existieren somit keine schutzbedürftigen Flüchtlinge. Während Europa weltweit die Einhaltung von Menschenrechten propagiert, schleicht es sich de facto durch die Hintertür aus der Genfer Flüchtlingskonvention.

Die Humanität Europas ist nicht an den Millionen der Entwicklungszusammenarbeit zu messen. Sie endet an der Grenzpolitik. (Stefan Salomon, derStandard.at, 14.6.2013)