Für den Historiker Kaynar sind Archive "eine Droge".

Foto: Standard/privat

Wie lässt sich die Entwicklung ­demokratischer Werte erklären? Was veranlasst diktatorische Machthaber, demokratische Strukturen zu erhalten? Fragen wie diese beschäftigen den Historiker Erdal Kaynar. Einen besonderen Fokus legt er auf das späte Osmanische Reich, den Vorläufer der heutigen Republik der Türkei.

In seiner Dissertation hat Kaynar die sogenannte Jungtürkische Bewegung studiert, die 1908 eine Revolution auslöste und damit grundlegende Veränderungen auf dem gesamten mittleren Balkan anstieß, die bis in unsere Zeit reichen. Die Jungtürken schufen eine politische Kultur, bestimmt von Parlamentarismus, Militarismus und einem ambivalenten Verhältnis zum Westen, die in Ereignissen im Irak unter Saddam Hussein oder auch aktuell in Syrien unter Baschar al-Assad ein Echo zu finden scheint, meint Kaynar.

Was den 33-Jährigen, der in Deutschland aufgewachsen ist und nach seiner Studienzeit in Berlin und Paris nun als Postdoc in Istanbul tätig ist, besonders interessiert, ist die Widersprüchlichkeit, die er in der Jungtürkischen Revolution erkennt. Denn einerseits handelt es sich dabei um eine "Bewegung mit einem starken parlamentarischen Appell, andererseits um ein recht autoritäres Regime". Kaynar erkennt darin einen Zug, der sich auch im heutigen Syrien finden lässt.

Seine Arbeit führt den Historiker oft in Archive. "Archive sind wie eine Droge", sagt er, "wenn man einmal Archiv-Staub eingeatmet hat, kommt man nicht mehr los." Zwar gebe es inzwischen viele digitalisierte Archive, "aber das ist nicht dasselbe, wie 150 Jahre alte Dokumente in Händen zu halten". Ab Oktober wird ihn seine Recherche an das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) Wien führen.

Mitunter ergeben sich in seinen historischen Studien auch Bezüge zur Gegenwart. In den letzten Tagen hat er viel Zeit am Taksim-Platz verbracht, dem Zentrum der aktuellen Demonstrationen, der nur unweit von seinem Forschungsinstitut liegt – auf der Suche nach Verbindungen zwischen dem, was er dort beobachtet, und seiner Archivarbeit. "Bisher noch ohne klare Antwort", meint er. Was ihm auffällt, ist der Autoritarismus in der Rolle, die der Staat in der Türkei spielt – "als Repressionsapparat und auch, um die wirtschaftliche Entwicklung zu steuern". Diese Themen werden auch bei den aktuellen Protesten aufgegriffen.

Doch was veranlasst Macht­haber, einerseits diktatorisch zu agieren, andererseits ein parlamentarisches System zu erhalten? Für Kaynar hat das mit "den Grenzen des bürgerlichen Denkens" zu tun. Prinzipiell seien die Jungtürken zwar vom Parlamentarismus überzeugt gewesen, doch sobald das parlamentarische System nicht die von ihnen gewünschten Entwicklungen anstieß, "brachten sie Autoritarismus ins Spiel". So führen seine Recherchen den Historiker auch zu philosophischen Fragen, etwa: "Was heißt es, ein moderner Mensch zu sein?"

"Der Begriff der Moderne ist an die Idee geknüpft, dass der Mensch die Welt verändern kann", meint Kaynar. So verlangt das modere Leben "einen täglichen Kampf, seinen Widerstand durchzusetzen" – ein Bestreben, das in der Postmoderne oft verlorengegangen sei. Vielleicht kämpfen die Demonstranten am Taksim-Platz in Istanbul auch dafür: ihren Einfluss als Individuen auf die Geschichte. (Tanja Traxler /DER STANDARD, 12.6.2013)