Corti über ihr neues Haus Vinzi-Rast mittendrin, das aus der "Uni brennt"-Bewegung entstand. Studierende und Obdachlose wohnen hier miteinander: "Das fanden wir schon sehr interessant."

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Ist die Vinzi-Rast mittlerweile eine Wiener Institution?

Corti: Das getraue ich mich nicht zu sagen. Das wird von außen beurteilt. Als ich begonnen habe vor etwas mehr als zehn Jahren, habe ich bestimmt nicht einen Augenblick an so etwas gedacht. Ich wollte mich bemühen, meinen Anteil zu diversen Aspekten des Lebens, die mir wesentlich erscheinen, beizutragen. Dass Menschen anders miteinander umgehen. Dass auch die Gruppe von Menschen, die übersehen und verachtet wird, hereingenommen wird, und dass die das Gefühl haben, sie sind okay. Also eine bedingungslose Akzeptanz, die diese Trennungen aufhebt.

STANDARD: Wie kam Ihr Engagement bei den Wienern an?

Corti: Ganz zu Beginn, als ich auf der Suche nach einem Grundstück war, der Idee von Pfarrer Pucher aus Graz folgend, bin ich auf Skepsis und Widerstand und zum Teil fast auf Hohn gestoßen. Viele haben gesagt, warum glaubst ausgerechnet du, dass du das kannst? Das ist auch die schwierigste Gruppe, mit der schon offizielle Stellen ihre Mühe haben, die 500 bis 1000 Obdachlosen, die auf der Straße sind. Ich habe mich halt nicht beirren lassen, obwohl jeder gesagt hat, du wirst nie einen Groschen Geld für besoffene Sandler bekommen.

STANDARD: Das hat Sie nicht entmutigt?

Corti: Nein. Dazu war meine Entscheidung zu klar. Ich wollte im Grunde einfach das tun, was zu tun ist. Keine großen Ansprüche, den Menschen ein Dach über dem Kopf für die Nacht bieten und ihnen so begegnen, dass sie das Gefühl haben, sie werden ernst genommen und nicht als Spezies Mensch angesehen, die man reparieren und in die Gesellschaft wieder zurückführen muss. Und jetzt treffe ich vor allem auf Menschen, die mit Freude und viel Einsatz ihren Teil dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft vielleicht auch atmosphärisch ein bisschen verändert.

STANDARD: Ihre Biografie ist von Flucht in früher Kindheit und dem Verlust Ihres Vaters geprägt, als Sie noch klein waren. Man könnte meinen, Sie würden sich eher in der Flüchtlingshilfe engagieren, stattdessen sind Obdachlose Ihr Thema. Wie kam es dazu?

Corti: Diesen Zusammenhang mit meiner Biografie habe ich bisher nicht gesehen. Mag sein, dass das eine tiefere Wurzel hat. Ich habe die ersten fünf Lebensjahre fast wie ein Paradies erlebt, obwohl wir sehr einfach gelebt haben. Aber in großer, großer Geborgenheit mit den Eltern und vier Geschwistern. Und dann der Verlust dieser Geborgenheit, vor allem die Trennung vom Vater, der seitdem nicht wieder auffindbar war.

Er ist verschleppt worden, und wir haben nie eine klare Information bekommen, was eigentlich mit ihm passiert ist. Nur, dass sein Ende ganz grauenvoll war. Der Schmerz der Mutter darüber, das habe ich viele, viele Jahre später erst erkannt, welch starke Auswirkung das für mein Leben hatte. Dass es fast unmöglich ist, weiterzuleben, wenn eine solche gewaltsame Trennung stattfindet. Und natürlich auch der Verlust des Vaters, der mir sehr viel bedeutete.

Im Lauf des Lebens habe ich erlebt, wie Beziehungen darunter leiden, dass Erwartungen nicht erfüllt werden oder dass bestimmte Vorstellungen nicht eintreffen. Das bewegt mich, wie wir dazu beitragen können, dass die Menschen, die viele Kränkungen erlebt haben, wieder an ihre Kraft und Würde erinnert werden.

STANDARD: In Ihrem neuen Projekt "Vinzi-Rast mittendrin" wohnen Studierende mit Obdachlosen zusammen. Wie kam die Idee zustande?

Corti: Das war nicht unsere Idee, das waren die Studierenden der Uni Wien aus der "Uni brennt"-Bewegung. Die haben damals ja genächtigt im Audimax, und da kamen Wohnungslose und waren glücklich, dort auch eine Matratze zu finden. Da hat sich dann eine Gruppe von Studierenden zusammengefunden, die aus dieser Erfahrung eine Zusammenarbeit mit Wohnungslosen weiterentwickeln wollten. Weil sie der Meinung waren, dass die Obdachlosen sehr wohl kleine Arbeiten auch gratis einbringen wollen, wenn sie dafür Nächtigungsmöglichkeiten und Beratung bekommen. Die Studierenden dachten an so etwas wie eine Tagesbildungsstätte. Und mit der Idee sind sie an den Dr. Haselsteiner herangetreten.

Er meinte, dass er eigentlich schon genug soziales Engagement trägt, durch seine Unterstützung für Ute Bock, Pater Georg Sporschill und die Vinzi-Rast, aber er hat mir diesen Brief weitergeschickt und gefragt: Was halten Sie denn davon? Und ich habe das mit den Mitarbeitern besprochen, und das fanden wir schon sehr interessant. Und dann kam dazu, dass dieses Haus hier leerstand. Dr. Haselsteiner hat uns tatsächlich ermöglicht, dieses Haus zu kaufen, Architekt Alexander Hagner hat die Sanierung und den Umbau geplant und die Durchführung überwacht.

Dann kam der Gedanke des Lokals dazu und die Werkstätten und viele Räume, die Gemeinschaft und Austausch, gemeinsames Arbeiten, Lernen und Wohnen ermöglichen. Wie wird sich das entwickeln, welche Erfahrungen entstehen aus solch einer gelebten Gemeinschaft, und wie lässt sich das wissenschaftlich formulieren? Die Uni Wien, gewisse Institute, sind wirklich interessiert daran.

STANDARD: Verschärft sich das Problem der Verelendung gewisser Bevölkerungsschichten?

Corti: Ich kann vor allem beurteilen, was die Menschen aus Osteuropa betrifft. Wir haben jetzt sehr viel mehr Menschen ausländischer Herkunft zu Gast in unserer Notschlafstelle in Meidling.

STANDARD: Gibt es Armutswanderung von Ost nach West?

Corti: Sicher. Von Rumänen, aber auch Ungarn, Polen, der Slowakei - Ländern, die EU sind. Die uns erzählen, obdachlos dort zu sein sei nicht zu vergleichen mit hier. Ich habe vor kurzem gehört vom Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, dass es da auch Schlepper gibt. Leute, die in Budapest verbreiten, dass die Menschen kostenlose Versorgung in Österreich bekommen, sie müssten nur den Transport bezahlen. Diese armen Menschen werden dann vor dem Krankenhaus der Barmherzigen Brüder abgeladen. Das ist untragbar und zeigt, wie komplex die Situation geworden ist.

STANDARD: Ihre Kritik am System, an der aktuellen Politik, etwa am Fremdenrecht, ist im Laufe der Jahre härter und pointierter geworden.

Corti: Wirklich?

STANDARD: Ja, man hat, Wienerisch gesprochen, den Eindruck, Sie pfeifen sich nichts mehr.

Corti: Das wundert mich, dass Sie das sagen. Ich hatte und habe auch jetzt nicht die Tendenz, Dinge anzuprangern. Ich habe immer überlegt, wo kann ich selbst etwas beitragen. Dann brauch ich mich nicht aufzuregen. Was ich zunehmend grauenvoll finde, ist die Vorgangsweise der Strache- Partei und diese Form der menschenverachtenden Aussagen und Abgrenzungen.

Dieses Appellieren an niedere Instinkte im Menschen, das Schüren der Angst, man müsse vielleicht vom Erworbenen oder Erreichten etwas abgeben - es ist doch normal, dass wir alle etwas beitragen. Und das Populistische in unserer Politik insgesamt, der Mangel an Mut, auch unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, verbreitet eine Atmosphäre des Egoismus, der Habgier, der Unehrlichkeit. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn Mitgefühl, Respekt und Kreativität auf der Strecke bleiben.

STANDARD: Sie haben schon als junges Mädchen für das Europäische Forum Alpbach gearbeitet und mit Richard Coudenhove-Kalergi für die Paneuropa- Union. Sind Sie ein politischer Mensch?

Corti: Das waren Sommerjobs. Coudenhove-Kalergi war ein ungeheuer großzügiger und gebildeter Mensch mit einem umfassenden Verständnis von Europa, der war in Kontakt mit Leuten wie De Gaulle und Golda Meir. Er hat so wunderbar erzählt von diesen Leuten und davon, was sich in ihren Köpfen abspielt. Das prägt ein junges Mädchen natürlich. Aber mein erster Job war in der Europäischen Föderalistischen Partei Österreichs von Otto Molden. Aber parteipolitisch habe ich mich in der Folge nie engagiert. Trotzdem empfinde ich mich natürlich als politischen Menschen.

STANDARD: Wollten Sie nie selbst Politik gestalten?

Corti: Oh Gott, nein. Da müsste ich ja vieles akzeptieren, was mir gar nicht gefällt. Vor allem das ewige Schlechtmachen der anderen, damit man besser dasteht. Ich war ja auch über viele, viele Jahre nur Hausfrau und Mutter, da war ich voll ausgelastet. Ich war mit einem sehr passionierten und engagierten Menschen verheiratet, der auf seine Weise Missstände angeprangert hat. Aber er hat nie Leute fertiggemacht, er hat die Dinge auf den Punkt gebracht. Da habe ich sicher auch gelernt, Stellung zu beziehen. Das hat meinen kritischen Geist sehr geprägt.

STANDARD: Blicken Sie 20 Jahre in die Zukunft: Was wünschen Sie sich für Ihre Projekte, für die Stadt Wien? Wie soll alles weitergehen?

Corti: Eigentlich das, worum wir uns in der Vinzi-Rast bemühen, dass Menschen anders miteinander umgehen - das ist wirklich die Essenz unseres Projekts: dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Schicksale, Alters sich ihrer Vorurteile und Urteile, ihrer unerfüllten Erwartungshaltungen bewusst werden. Wenn sich das auf die Atmosphäre einer Stadt überträgt und wenn das unser Miteinander beeinflusst, wenn uns allen klar wird, dass diese Ausgrenzungen und Kränkungen, die wir täglich meist unbewusst begehen, uns allen miteinander nicht guttun, dann ist wirklich etwas gelungen. Ich wünsche mir, dass jeder Mensch seine eigene tiefe Sehnsucht nach Frieden in die Tat umsetzt. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 8./9.6.2013)